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Prinzip des Arbeitshauses frühkapitalistischer Prägung die Unterbringung ständig verfügbaren Krankenpflegepersonals. Zugleich bot das sog. Mutterhaussystem aber auch einen geschützten Rahmen für berufstätige Frauen außerhalb der Familie. Auch innerhalb der jüdischen Gesellschaft wurde Ende des 19. Jahrhunderts die Notwendigkeit weiblicher Berufstätigkeit diskutiert. Bekannt ist die hohe Rate von Studentinnen aus dem jüdischen Bürgertum, von denen sich viele der Medizin zuwandten.‘ Jüdische Frauen als Krankenpflegeschulen Initiatorinnen jüdischer Von besonderem Interesse waren außerdem soziale Berufe. Dabei wurde, wie Claudia Prestel ausführt, die im sozialen Bereich, der traditionell hoch bewertet wurde, tätige Frau, innerhalb des liberalen Flügels der jüdischen Gemeinde auch als Beweis für die Integrationsfähigkeit der jüdischen Minderheit angeführt. Jüdische Krankenpflegerinnen vertraten demzufolge auch die „Ehre des Judentums“. Traditionell orientierte Kreise hingegen betrachteten die angestrebte Verberuflichung der Krankenpflege mit Skepsis, da eine Förderung der Unabhängigkeit der Frau, diese von der traditionellen Rolle als Mutter und Hausfrau abhalten würde. In Östereich-Ungarn wurde diese Ambivalenz der männlichen Vertreter jüdischer Gemeinden dort besonders deutlich, wo sich Frauen aktiv mit Plänen zur Schaffung einer Ausbildung für jüdische Krankenpflegerinnen zu Wort meldeten und dafür auch einen Führungsanspruch und finanzielle Unterstützung einforderten. Sowohl in Wien als auch in Budapest gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen engagierten Frauen und den Vertretern der Kultusgemeinden bzw. der Spitalsleitung schwierig. Mit ein Grund dafür waren u.a. auch die unterschiedlichen Frauenbilder der männlichen Leiter und der Protagonistinnen des Aufbruchs der Frauen. Während erstere vor allem an unbegrenzt zur Verfügung stehendem Personal interessiert waren, war letzteren eine gute Ausbildungs-, Lebens- und Arbeitssituation der Frauen wichtig. In Prag wiederum wurde das Projekt einer Ausbildung für jüdische Krankenpflegerinnen zwar mit anfänglicher Unterstützung seitens einiger männlicher Repräsentanten des Zentralvereins durchgesetzt, doch vermitteln die Berichte der wichtigsten Prager Protagonistin, Julie Leipen, über die zwei Jahrzehnte hinweg den Eindruck, dass sich auch hier das Interesse nicht in einer langfristigen garantierten Finanzierung der privaten Krankenpflegeschule äußerte. Es waren also — wie Hilde Steppe dies auch für Deutschland feststellte — verschiedene Protagonisten aus unterschiedlichen Gründen an der Schaffung jüdischer Krankenpflegeschulen interessiert. Diese unterschiedlichen Motive konnten in Österreich-Ungarn im Gegensatz zu den deutschen Krankenpflegeschulen häufig nicht so miteinander in Einklang gebracht werden, dass eine konstruktive Zusammenarbeit möglich war. Welches waren die Argumente, mit denen Ende des 19. Jahrhunderts die Schaffung einer jüdischen Krankenpflege begründet wurde? An welchen Vorbildern orientierte man sich dabei? Wie bereits ausgeführt, steht die Forderung nach jüdischen Krankenpflegerinnen in engem Zusammenhang mit der medizinischen Entwicklung und dem Bau moderner jüdischer Krankenhäuser. Dass auch nach Erlangung der Gleichberechtigung für Juden 56 ZWISCHENWELT weiterhin das Bedürfnis nach jüdischen Spitälern bestand, hat mehrere Gründe. Zum einen bestand auf Seiten mancher PatientInnen das Verlangen nach religiöser Betreuung bzw. generell das Bedürfnis nach einem kulturell jüdischen Umfeld im Krankheits- und Sterbefall, und zum anderen waren jüdische Ärzte mit einem zunehmenden Antisemitismus konfrontiert, der sie sowohl in ihrer Berufsausbildung als auch in ihrer Berufsausübung behinderte.’ Ein dritter wichtiger, wenn auch mehr allgemeiner Aspekt war der, dass Einrichtungen wie jüdische Wohlfahrtsanstalten und Krankenhäuser in Zeiten einer verstärkten Abwendung vom Judentum einen Schutz gegen die vollständige Assimilierung bilden konnten.® Innerjüdische Aktivitäten auf diesem Gebiet förderten das Zusammengehörigkeitsgefühl jenseits einer strikt religiösen Betätigung. Insofern kann die Entwicklung der jüdischen Krankenpflege im Gegensatz zur christlichen und ähnlich wie die Entwicklung der nicht religiösen christlichen Krankenpflege auch als Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses gesehen werden, eines Säkularisierungsprozesses allerdings, bei dem paradoxerweise gerade mit der religiös-kulturellen Zugehörigkeit argumentiert wurde. Als Vorbilder nannte man neben dem traditionell hohen gesellschaftlichen Wert der Wohltätigkeit im Judentum und den erfolgreichen Organisationen jüdischer Krankenpflegerinnen in Deutschland aber auch häufig das Beispiel weiblicher christlicher Krankenpflegeorden wie die katholischen Vinzentinerinnen, die Barmherzigen Schwestern oder die evangelischen Diakonissen, aber auch weltliche Pflegeorganisationen wie die Pflegerinnen des Roten Kreuzes oder die Rudolfinerinnen in Wien. Dass die Zusammenarbeit zwischen Rotem Kreuz und jüdischen Spitälern an einigen Orten eng war, beweist die Tatsache dass etwa in Budapest in den frühen 1880-er Jahren Frauen in Rotkreuzkursen im jüdischen Spital ausgebildet wurden. Ob es später auch in Rotkreuzorganisationen der Habsburgermonarchie zu Ausschlüssen von Jüdinnen kam, wie Claudia Prestel für das deutsche Mutterhaus des Roten Kreuzes festgestellt hat, wäre eine weitere, noch genauer zu untersuchende Frage. Einen stark eingeschränkten Zugang hatten Jüdinnen jedenfalls zur ersten Schule, die weltliche Krankenpflegerinnen ausbildete. Im Rudolfinerhaus in Wien, dessen Anspruch es war, eine Elite von Krankenpflegerinnen auszubilden, wurden nur in seltenen Fällen jüdische Frauen aufgenommen. Zwischen der Eröffnung der Schule im Jahr 1882 und der Eröffnung der jüdischen Krankenpflegeschule am Rothschildspital im Jahr 1907 beendeten nur drei Frauen jüdischer Konfession ihre Ausbildung im Rudolfinerhaus.? Nach der Errichtung des „Kaiserin Elisabeth-Instituts für israelitische Krankenpflegerinnen“ — einer nur wenige Jahre bestehenden jüdischen Krankenpflegeschule in Wien — wurden jüdische Bewerberinnen an dieses Institut weiter verwiesen.! Dass das Verhältnis zwischen diesen beiden Einrichtungen nicht immer ohne Spannungen verlief, beweist ein „Uniformenstreit“ im Jahr 1910. Damals protestierte der Direktor des Rudolfinerhauses Robert Gersuny bei der Direktion des Rothschildspitals gegen eine angebliche „Kopie“ der Schwesterntracht des Rudolfinerhauses und ersuchte um eine Änderung der Tracht des „Kaiserin Elisabeth Instituts“, um Verwechslungen zu vermeiden.!! Dieser Vorfall ist allerdings im Zusammenhang mit einer anderen damals bereits seit einigen Jahren andauernden größeren Debatte zu sehen, in der weltlichen Krankenpflegerin