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sich nie wohlgefühlt, als jüdische Autorin bezeichnet zu werden. Hilde Spiel und ihr Ehemann Peter de Mendelssohn sagten: „Hitler hat uns zu Juden gemacht.“ Felix de Mendelssohn sah Parallelen zwischen Freud und seiner Mutter in Bezug auf ihre Exilerfahrung und zitiert Freud, der 1926 sagte: „Meine Sprache ist deutsch. Meine Kultur, meine Bildung sind deutsch. Ich betrachtete mich geistig als Deutschen, bis ich die Zunahme des antisemitischen Vorurteils in Deutschland und Deutschösterreich bemerkte. Seit dieser Zeit ziehe ich es vor, mich einen Juden zu nennen.“ Die Ambivalenz von Marie Jahodas Auseinandersetzung spiegelt die Ambivalenz der Erfahrung exiliert zu sein wider. Und auch wenn sie die Psychoanalyse wie eine Lingua Franca beschreibt, eine ‚globalized discipline’ — so bleibt die Ambivalenz, die Die eingeschränkte Perspektive weitet mitunter den Blick. Die alternativlose Haltung zeigt, dass es auch anders gehen könnte. So führen die Erinnerungen von Joyce Lussu nicht vom Alltag in den Kampf, zeichnen nicht den von Furcht und Angst gesäumten Weg hin zum Entschluss etwas zu tun, sondern beschreiben den Alltag als Kampf gegen das Unrecht und Widerstand als stete Pflicht. Ist ein Rückzug unausweichlich, kurze Sammlung in den Bergen von Nöten, so blitzt hier nicht die Sehnsucht nach dem ruhigen Leben auf und verdunkelt die Aussicht auf die Fortdauer des Krieges, vielmehr zieht die Untätigkeit sogleich das schlechte Gewissen mit sich, nicht zu kämpfen, nicht zu helfen, sich nicht einzumischen. Es gibt keine Perspektive jenseits des tätigen Widerstands gegen den Faschismus. Unter der Herrschaft der Faschisten ist kein Leben zu leben. Nicht die Sorge um Familie, Beruf oder die eigene Unversehrtheit prägt ihr Handeln, sondern die Einsicht, dass am Kampf kein Weg vorbei führt. Es ist eben jene Alternativlosigkeit, die Lussus Erinnerungen an das abenteuerliche Leben in der Resistenza zu einer befreienden Lektüre macht. Das schon 1945 in Italien unter dem Titel Fronti e frontiere herausgebrachte Buch liegt nun zum ersten Mal auf Deutsch vor. Christa Kofler hat es in farbiger Sprache iibersetzt, mit einem informativen Glossar versehen und im Nachwort den Lebensweg der Widerstandskampferin nachgezeichnet. Thr und dem Mandelbaum Verlag ist dafiir zu danken, dass die hierzulande noch Unbekannte nun endlich entdeckt werden kann. Joyce Lussu wurde als Gioconda Beatrice Salvadori Paleotti 1912 in Florenz als Kind dem Landadel entstammender Eltern geboren, die aufgrund ihrer antifaschistischen Haltung schon bald in die Schweiz fliehen mussten. Sie studierte in Deutschland Philosophie, begann zu schreiben, verbrachte mehrere Jahre in Libyen, lebte mit ihrem ersten Ehemann in Kenia und kehrte 1938 nach Europa zurück, wo sie gemeinsam mit dem in der Resistenza tätigen Emilio Lussu in Paris lebte, sich bei Giustizia e Liberta engagierte und den Einmarsch der Nazis mit ansehen musste. Mit der plastischen Schilderung ihrer Flucht vor der Besetzung von Paris durch deutsche Truppen ziehen ihre Erinnerungen gleich zu Beginn in den Bann. Selbst unter immer wieder neuen falschen Namen in der Resistenza aktiv und verfolgt, fälscht sie Dokumente und verhilft Bedrohten zur Flucht. Sie ist eine Fluchthelferin, eine Schlepperin, wie es heute zumeist abwertend heißt. Sie schleppt die Verfolgten von drohender Gefangenschaft, Folter und Tod in ein neues Leben. Nach Portugal geschleust, reist sie nach Großbritannien, wo sie eine Funkerausbildung absolviert, kehrt zurück nach Frankreich, durchquert mit der Bahn und zu Fuß die Front in Italien, um hinter die Linie der Alliierten zu gelangen und Waffen für die Partisanen zu organisieren. All das beschreibt Lussu mitreißend in zwölf Kapiteln, denen als Widmung verschiedene Frauennamen voranstehen. Zwar stehen die genannten Frauen nicht im Zentrum der jeweiligen Erzählung, der sie ihren Namen geben, doch schildert Lussu mit ihnen die lange ausgespart gebliebene Geschichte der Frauen im Widerstand gegen den Faschismus. „Tatsächlich war es meine ursprüngliche Absicht, genau diese weiblichen Figuren in den Mittelpunkt zu stellen. Wie man weiß, sind in der italienischen Literatur Frauen als eigenständige menschliche Wesen sehr rar gesät, denn meist werden sie auf ihre gefühlsbedingten und amourösen Verdas Exil unweigerlich bedeutet, bestehen. Man ist mit dieser universellen Disziplin letztlich doch in der Fremde. Lisa Emanuely Elana Shapira und Daniela Finzi (He): Freud and the Emigré. Austrian Emigrés, Exiles and the Legacy of Psychoanalysis in Britain, 1930s—1970s. Palgrave Macmillan. 2020. 291 S. € 108,strickungen reduziert.“ (10) Nicht zuletzt widerlegt die aufgezeichnete Erinnerung an ihr eigenes Leben beispielhaft diese literarische Beschränktheit und reaktionäre Ideologie. Sie beschreibt das Handeln von Frauen und Männern im Widerstand, den Kampf gegen den Faschismus und für Sozialismus als Weg hin zur Freiheit. In der Niederlage Frankreichs erkannte sie die „Niederlage einer ganzen Zivilisation“ (12) und fürchtete, „der Triumph des Faschismus führte in ein neues Mittelalter. All dies bedeutete den Zusammenbruch unserer Welt, unserer gesamten Existenz.“ (12) Dagegen setzten sich die Menschen, denen Lussu in ihren Erinnerungen eine Stimme gibt, zur Wehr. Kontrastierend zu dieser freiheitsliebenden Haltung der Widerstandskämpferinnen lässt sie am Ende ihres Buches, als die Wehrmacht geschlagen aus Rom abzicht, einen deutschen Soldaten, den die fliehenden Wagen am Straßenrand zurückließen, zu Wort kommen. ‚Wir führen Krieg‘, sagte der Deutsche, ‚weil wir eine verfluchte Rasse sind. Eine verfluchte Rasse. Warum sonst würden wir weitermachen? ... Der Fluch, der über uns liegt, rührt daher‘, fuhr er fort, ‚dass wir alle sofort habt Acht stehen, wenn sich nur ein einziger Offizier mit Mütze, Monokel und Handschuhen vor uns hinstellt. Fünf Minuten zuvor dachten wir vielleicht noch daran, ihn umzubringen. Doch wenn er dann da ist, uns ansieht und Habt Acht! sagt, dann schlagen wir die Hacken zusammen. Er sagt zu uns: Tötet und lasst euch töten, also töten wir und lassen uns töten. Warum? Ja, das eben ist unser Fluch, so ist es immer schon gewesen und so wird es immer sein. Wenn ein Offizier kommt, werden wir immer und ewig habt Acht stehen. Solange es Offiziere gibt, werden wir weiter töten und uns töten lassen.‘ (235) Dem Kampf gegen solchen Fatalismus, Dezember 2021 65