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blinden Gehorsam und Untertanengeist ist jede Zeile dieses Buches gewidmet. Das macht seine Lektüre auch heute zu einer dringlichen Empfehlung. Bernd Zeller Joyce Lussu: Weite Wege in die Freiheit. Erinnerungen an die Resistenza. Herausgegeben und aus dem Italienischen übersetzt von Christa Kofler. Wien: mandelbaum verlag 2021. 286 S. € 20,Dreiunddreißig Schritte von meinem Gartentor entfernt ist ein Stolperstein in den Boden eingelassen. Es ist einer von unzähligen Stolpersteinen in der Stadt Salzburg, die an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern sollen. Ich muss gestehen, dass ich schon lange nicht mehr über diesen Stolperstein gestolpert bin, mich gewissermaßen an ihn gewöhnt habe und er mir erst jetzt im Zuge der Lektüre von Barbara Serloths Buch „Nach der Shoah. Politik und Antisemitismus in Österreich nach 1945“ wieder bewusst geworden ist. Der Stolperstein soll an eine Frau erinnern, die im Jahr 1898 geboren wurde und zuletzt im Haus nebenan gewohnt hat. Eine Frau, die genau hundert Jahre vor mir geboren wurde. In einer Zeit, von der meine Großmutter spricht, als hätte sich das alles gerade erst gestern zugetragen. Eine Zeit, die für mich als Angehörige der vierten Generation nach dem Krieg aber ziemlich weit weg ist. Ich habe den Vater meiner Großmutter nicht mehr persönlich kennengelernt, aber ich weiß aus den Erzählungen meiner Großmutter, dass mein Urgrofvater im Krieg war und dass er nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs allein zu Fuß nach Hause gegangen ist. Von Chemnitz über Tschechien ging er zu Fuß nach Mauerkirchen in Oberösterreich. Eine Strecke, die auf Google Maps gar nicht so weit aussieht, für die mein Urgrofvater aber fast einen Monat gebraucht hat. Am Tag hat er sich versteckt und in der Nacht ist er marschiert. Als er auf seinem Weg von einem russischen Lastkraftwagen aufgriffen worden ist, war er überzeugt, dass es jetzt aus sei mit ihm und er nicht mehr nach Hause komme. Ein russischer Soldat durchsuchte seine Taschen. In der Brusttasche meines Urgroßvaters war ein Rosenkranz und eine Fotomappe mit Bildern von meiner vierjährigen Großmutter 66 _ZWISCHENWELT und ihrer kleinen Schwester. Der Soldat hat sich die Fotomappe genau angeschaut und sie dann wieder zurück in die Tasche meines Urgroßvaters gesteckt. Als der russische Lastkraftwagen dann fast an der österreichischen Grenze war, hat er gesagt: „Hinunter mit dir zu Mutter und Kind.“ Meine Großmutter hat mir oft von dem Tag erzählt, an dem mein Urgroßvater wohlbehalten zu Hause angekommen ist. Meine Großmutter war damals noch ein kleines Mädchen. Ich weiß, dass mein Großvater und sein Vater nicht einberufen worden sind. Ersterer, weil er dreißig Kilogramm zu wenig gewogen hat und letzterer, weil er als Wachszieher gebraucht wurde, damit er Ziindschniire, Fackeln und Notlichte fiir das Militar herstellen kann. In Zeiten der Corona Pandemie wiirde man sagen, er war systemrelevant. Ich weiß, dass unser Haus im November 1944 von einer Bombe getroffen wurde, die aber glücklicherweise nicht explodiert ist, weil sie sich an der Ecke des Hauses an einer Eisentraverse den Zündkopf abgeschlagen hat. Und ich weiß, dass mein Großvater daraufhin eine Lebenszeichen-Postkarte an seine Verwandten in Linz geschrieben hat — mit sogar weniger Worten als den zehn erlaubten: „Elternhaus getroffen. Sind alle am Leben.“ Was sich ebenfalls im November zugetragen hat, allerdings sechs Jahre früher, im Jahr 1938, war die Zerstörung der jüdischen Geschäfte und Synagogen im Deutschen Reich. Anfangs haben wir in der Schule im Geschichtsunterricht noch über die „Reichskristallnacht“ gelernt. Irgendwann wurde uns allerdings erklärt, dass dieser Begriff euphemistisch sei und wir deshalb statt Reichskristallnacht ab sofort Novemberpogrom sagen sollten. Von der Judenverfolgung im Nationalsozialismus hat meine Großmutter nur wenig mitbekommen. Sie war am Ende des Zweiten Weltkriegs aber auch erst fünf Jahre alt. Was meiner Großmutter aber als Kind auffiel, war, dass nie gesagt wurde, der ist Schweizer, der ist Franzose, der ist Wiener, bei Juden aber wurde immer dazugesagt: das ist ein Jude. Ich weiß, dass einigen Juden die Flucht gelungen ist und sie ins Exil gegangen sind. Aus dem Deutschunterricht ist mir besonders Stefan Zweigs Leben im Exil im Gedächtnis geblieben. Auch in meinem Germanistikstudium ist die NS-Zeit immer wieder Thema. Der Einfluss des Nationalsozialismus auf die Literatur. Die Exilliteratur. Und auch die Sprache im Nationalsozialismus. Ein weniger bekanntes Erbe aus der NS-Zeit ist beispielsweise die Tilgung der jüdischen Namen in der Buchstabiertafel. Heute sagen wir, wenn wir etwas buchstabieren: D wie Dora, N wird Nordpol und S wie Siegfried und nicht etwa D wie David, N wie Nathan und S wie Samuel. David, Nathan und Samuel sind in der NS-Zeit aus der Buchstabiertafel verschwunden. Ich weiß, dass es einige Menschen gab, die Juden bei sich versteckt haben. Das weiß ich nicht zuletzt wegen des Tagebuchs der Anne Frank, das eine Schulkollegin in der fünften Klasse im Rahmen des Deutschunterrichts vorgestellt hat und das mich schon beeindruckt hat, bevor ich es überhaupt gelesen hatte. Meine Mutter hat einmal zu mir gesagt, dass sie nie Leute bewundert hat, die Juden bei sich versteckt haben, und auch jene nicht verachtet hat, die es nicht getan haben. Sie hat gesagt, dass sie einfach froh ist, so spät geboren worden zu sein, und dass sie nicht weiß, ob sie zur Heldin hätte werden können. Als Kind habe ich die Phrase „bis zur Vergasung“ ganz selbstverständlich verwendet. Bis mich eines Tages ein Erwachsener darauf hingewiesen hat, dass man das