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Christiana Puschak Nach den geistig-kulturellen Verheerungen des Nationalsozialismus wollte sie einen Neuanfang mit Kindern starten, die mit Krieg, Hass und Gewalt aufwuchsen. Bei den Kindern müsse die Völkerverständigung beginnen, so ihre Vision. Als Jüdin sah sich Jella Lepman gezwungen, Deutschland zu verlassen. Sie emigrierte nach England. Hier erhielt Jella Lepman von der Universität Cambridge den Auftrag, den geretteten Nachlass von Arthur Schnitzler zu sichten und zu ordnen. Mit journalistischer Arbeit schlug sie sich durch sowie mit Arbeit für die BBC und die ABSIE (American Broadcast Station in Europe), wo sie gemeinsam mit Golo Mann Beiträge gegen die Nazi-Propaganda nach Deutschland sandte. Als der Krieg zu Ende war und sie ihre inneren Widerstände überwunden hatte, kehrte sie im Rahmen des amerikanischen „Reeducation“-Programms als „Beraterin für die kulturellen und erzieherischen Belange der Frauen und Kinder“ nach Deutschland zurück — Ziel war eine umfassende Entnazifizierung. Ihren Fokus richtete sie dabei auf die Kinder, die körperlich, seelisch und vor allem geistig verarmt waren: „Lassen Sie uns bei den Kindern anfangen, um diese gänzlich verwirrte Welt langsam wieder ins Lot zu bringen. Die Kinder werden den Erwachsenen den Weg zeigen“. „Nahrung für den Geist“ wollte Jella Lepman den Kindern geben und gleichzeitig eine Brücke bauen — „von Nation zu Nation... eine “Kinderbuchbriicke fiir Frieden und Verständigung unter den Völkern [...] Wir suchen nach Wegen, um die Kinder in Deutschland mit den Kinderbüchern anderer Nationen bekannt zu machen [...] Sie sollen zu einer Ausstellung zusammengestellt werden.“ Das beste Medium, um den Kindern im Nachkriegsdeutschland Toleranz, Friedensliebe und Weltoffenheit näher zu bringen, waren für sie Kinderbücher. Deshalb bat sie um Buchspenden für die versehrten Kinder-Seelen im zerstörten Deutschland. Ihren Appell richtete sie an Regierungen vieler Länder und blieb nicht ungehört. Am 3. Juli 1946 wurde die erste Internationale Jugendbuchausstellung im Haus der Kunst eröffnet. Erich Kästner widmete der Ausstellung eine liebenswürdige Besprechung in der „Neu68 _ZWISCHENWELT en Zeitung“, wobei er viele „prominente Gäste“ mit Namen nannte, so etwa Herrn Eulenspiegel und Baron Münchhausen, die Herren Rübezahl und Struwwelpeter, Monsieur Jean Bart, die Mister Robinson, Gulliver, Copperfield und Onkel Tom. Die Ausstellung wurde zu einem Riesenerfolg. Drei Jahre später wurde die Internationale Jugendbibliothek (IJB) eröffnet, die nicht länger ein Wunschtraum Jella Lepmans war, sondern nunmehr eine festgefügte Institution. All dies berichtet Jella Lepman in ihren Erinnerungen, die unter dem Titel „Die Kinderbuchbrücke“ im Antje Kunstmann Verlag neu herausgegeben wurden. Hier hat Jella Lepman aufgeschrieben, wie aus einer Idee ein Projekt wurde und wie sie dieses verwirklichte. Noch heute wirken diese Schilderungen der Nachkriegszeit äußerst lebendig und lassen Temperament sowie Humor durchscheinen. Das Buch, angereichert mit vielen Fotos, kann als Lepmans literarisches Vermächtnis angesehen werden und bietet Gelegenheit, die Autorin näher kennenzulernen. Wer aber war diese Frau, die jenes Projekt als Reaktion auf die Erfahrung von Krieg, Vernichtung und Diktatur initiierte und letztlich zum Erfolg führte? Geboren wurde Jella Lepman als Jella Lehmann 1891 in Stuttgart. Sie wuchs als älteste von drei Töchtern des Kaufmanns und Teilhabers einer Firma für Herrenkonfektion Josef Lehmann (1853 — 1911) in einer assimilierten jiidischen Familie auf. Seine Frau war Flora Lauchheimer (1867 — 1940), eine Tante des spateren Sozialphilosophen Max Horkheimer. Wenig ließ Jella Lepman über ihren familiären Hintergrund verlauten, einzig in ihrer „Kleinen Selbstbiographie“ steht zu lesen: „Eine glückliche Kindheit, verständnisvolle Eltern [...] Vater Persönlichkeit von Rang, Demokrat Uhlandscher Prägung, ein offenes, von Geist bewegtes Elternhaus.“ Wie es damals für eine Tochter aus gutem Hause üblich war, durchlief Jella Lepman den klassischen Bildungsweg junger Frauen der Mittel-und Oberschicht, dessen Akzent auf Sprachen und Musik lag. Bereits als Siebzehnjährige organisierte sie eine „Internationale Lesestube“ für die Kinder der ausländischen Arbeiter der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart, überzeugt von der verständnisfördernden Kraft der Bücher. In etwa zur gleichen Zeit erschienen auch ihre ersten journalistischen Arbeiten. Stellte der Tod ihres Vaters, zu dem sie ein inniges Verhältnis hatte, im Jahr 1911 eine erste Zäsur in ihrem Leben dar, so war der Tod ihres Mannes Gustave Horace Lepman, den sie 1913 geheiratet hatte, im Jahr 1922 eine zweite — erstarb an den Folgen seiner schweren Kriegsverletzungen. Alleinstehend mit zwei Kindern fand sie eine Anstellung als erste weibliche Redakteurin beim liberalen Stuttgarter Neuen Tagblatt. Ihr Interesse dort galt vor allem Frauenfragen, der Gleichberechtigung und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Herkömmliche Rollenbilder versuchte sie aufzubrechen. So begründete sie 1927 die regelmäßige Beilage „Die Frau im Haus, Beruf und Gesellschaft“. Daneben schrieb sie Artikel für andere Medien unter Pseudonym, unter ihnen auch Buch- und Filmrezensionen. Und während dieser Zeit ließ sie ihr erstes Kinderbuch „Der verschlafene Sonntag“ und das Kindertheaterstück „Der singende Pfennig“ erscheinen, das im Kleinen Haus des Württembergischen Landestheaters Stuttgart aufgeführt wurde. Jella Lepmans politische Aktivitäten begrenzten sich nicht auf Artikel in Zeitungen. In der Frauengruppe der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) Württembergs war sie aktiv und kandidierte 1928 sogar neben Theodor Heuss, dem späteren Bundespräsidenten, für den Reichstag, allerdings ohne Erfolg. Eine weitere Zäsur in Lepmans Leben bedeutete die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg: „the beginning of a long, dark and agonising night“, wie sie es in ihrem Text „Women in Nazi Germany“ (1943) nannte. Ihre jüdische Herkunft und ihre demokratische Gesinnung führten zur Untersagung ihrer journalistischen Arbeit sowie zum Publikationsverbot. Sie entschloss sich zur Emigration und