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bekannte später in ihrer Selbstbiographie: „In Worten nicht auszudrücken war der Schmerz der Auswanderung, die Ohnmacht, die Kinder vor solchem Leid zu bewahren.“ Ihre eigentliche Berufung fand sie im Nachkriegsdeutschland bzw. Nachkriegseuropa, nämlich im Aufbau und in der Leitung der Internationalen Jugendbibliothek (JB), in der Gründung des Internationalen Kuratoriums für das Jugendbuch (IBBY), das den Hans-Christian-Andersen-Preis vergibt, die höchste Auszeichnung für Kinderbuchautoren, sowie in der Etablierung eines Internationalen Kinderbuch-Tags. Jella Lepmans Leitgedanke war, aus der Kinderperspektive zu denken oder, wie sie es selbst einmal in einer Rede formulierte, „ein Zeichen der Hoffnung“ zu setzen, „daß die Kinder und jungen Menschen Deutschlands frei von der Feindschaft, den Vorurteilen und trennenden Grenzen aufwachsen sollen, die der erwachsenen Generation noch vielfach den Weg versperren“. Ihren Lebensabend verbrachte Jella Lepman in Zürich. Von hier aus begleitete sie die Arbeit in den von ihr geschaffenen Institutionen. Und hier schuf sie die Reihe „Die schönsten Gutenachtgeschichten“ sowie eine Anthologie „Kindheit. Kindergestalten aus der Weltliteratur“. Am 4. Oktober 1970 nahm die Welt Abschied von dieser Frau, über die Carl Zuckmayer schrieb: Sie hat, single-handed, würde man auf englisch sagen, im Alleingang wie ein Alpenbezwinger, gegen den ‚Dienstweg‘, gegen Kaltherzigkeit, Gleichgültigkeit, Phantasielosigkeit gekämpft, sie hat es geschafft, ihren schönen und noblen Gedanken zu verwirklichen, und was sie geschaffen hat, die ‚Erste Internationale Jugendbibliothek‘ und das, Internationale Kuratorium für das Jugendbuch‘, mögen mehr für die Verständigung Der von David G. John in der Theodor Kramer Gesellschaft herausgegebene Band Wem kein Bogen gesetzt macht das dichterische Werk Hans Eichners posthum zugänglich. Hans Eichner (1921-2009) wuchs als Sohn einer jüdischen Familie in Wien auf, wo er die Schule besuchte und auch Mitglied des jüdischen Sportvereins Hakoah war. 1938 flüchtete er erst nach Belgien und von dort aus ein Jahr später weiter nach England. 1940 wurde er allerdings als „enemy alien“ nach Australien abgeschoben, „wo er mit etwa 2.000 anderen Flüchtlingen, zumeist Juden, etwa drei Jahre bis Januar 1943 interniert wurde.“ (Nachwort des Herausgebers David G. John). In einem Gedicht aus der Zeit schreibt er über die Jahre der Gefangenschaft: „Heil denen, die noch Flügel tragen; aber uns / erschlafft die Sehne schon im Fuß, das Aug’ erlischt, / das Ohr will nicht mehr hören. Schwer im Hirn / ballt sich die Gegenwart zum Punkt, die Stunde friert, / der Fluss der Zeit wird Stein. [...]“ Hans Eichner kehrte schließlich nach London zuriick, studierte und erhielt spater eine Professorenstelle fiir Germanistik in Kanada und war zeitlebens ein sehr renommierter Literaturwissenschaftler. Als Literat hat er weitaus weniger publiziert denn als Wissenschaftler. So sind neben seinem autobiographischen Roman Kahn & Engelmann. Eine Familien-Saga und einer Kurzgeschichte zu Lebzeiten nur 22 von 101 Gedichten veröffentlicht worden. Wem kein Bogen gesetzt möchte Hans Eichners vielfältiges dichterisches Werk nun erstmals in seinem vollen Umfang einem breiteren Publikum zugänglich machen. Die Gedichte sind mit sehr viel Mühe und Sorgfalt aus mehreren Nachlässen zusammengetragen und nicht chronologisch geordnet, sondern thematisch, da viele, aber nicht alle, mit Datum versehen sind. Das ist durchaus nachvollziehbar, beim erstmaligen Lesen sind die ständigen Zeitsprünge jedoch eine kleine Herausforderung, da sich über die Jahre nicht nur die Themen, sondern auch der Stil der Gedichte wandelt und sich einem das alles erst bei mehrmaliger Lektüre wirklich gut erschließt. Der Band zeigt, dass Hans Eichner ein zu Unrecht in Vergessenheit geratener Dichter ist, den es nun wiederzuentdecken gilt. Einige der Gedichte lassen sich als Zeitdokumente lesen, beispielsweise das „REQUIEM FÜR HARDY UNGAR‘, einem Juden, der bereits gefliichtet gewesen war, dann aber nochmals zurückkehrte und daraufder Völker und die Ausrottung des Hasses bedeuten als viele Sitzungen und Beschlüsse höchster politischer Körperschaften. Ein Werk echter Menschlichkeit — das Werk eines großen Herzens. Christiana Puschak Jella Lepman: Die Kinderbuchbrücke. München: Antje Kunstmann 2020. 303 S. € 25,Christiana Puschak ist Dipl. Psych., Autorin, Studium Psychologie, Soziologie & Literaturwissenschaft, Exilforscherin, Beiträge in diversen Zeitungen und Zeitschriften, Gedichtveröffentlichungen. Bücher: „Die Dichterin Gertrude Urzidil (18981977) zwischen Prag und New York“ und „Lessie Sachs. Das launische Gehirn.“ hin ermordet wurde: „Machten sie es dir schwer? ich weiß nicht, wie du starbst, / doch immer wieder seh ich deine Haare / von Blut gerötet, deine schlanken Glieder / vom Leib gerenkt, und immer wieder / beißt du dir deine stolzen Lippen blutig / um nicht zu schrei’n vor Schmerz. Du schriest zuletzt / und dann ertrank dein Schrei im Blut.“ Als Metapher für den Holocaust findet er die biblische Erzählung des Kains, der seinen Bruder erschlug. Er denkt damit die Weltreligionen als Brüder und den Holocaust als Brudermord: „[...] wir in Kains Tagen: / Schlächter und Schlachtvieh alle, aus Sodom / alle, mit Blindheit geschlagen / alle, und kein Gerechter.“ Ein anderes, sehr starkes Gedicht aus 1947 erzählt die exemplarische Geschichte eines namenlos bleibenden alten Bauerns aus Siebenbürgen, der vertrieben wird und zu Fuß nach Wien aufbricht. Auf dem langen Weg verliert er nach und nach auch noch das wenige, was ihm geblieben war („Seine Söhne schlug man ihm ganz zu Anfang tot‘). Wir begleiten den mittellosen Bauern, dem immer nur noch mehr genommen wird und dem keinerlei Mitleid oder Hilfe widerfährt. Endlich in Wien angekommen findet er völlig ausgehungert und erschöpft in der Dezember 2021 69