OCR
Sichtbarkeit gelangen. Es wäre irreführend zu behaupten, dass es sie in der Ukraine nicht gibt. Was aber die Russische Föderation seit acht Jahren betreibt, ist ein Informationskrieg. Es wird versucht, diese Gruppen in den Fokus zu rücken. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein, als zu behaupten, sie repräsentierten die gesamte ukrainische Gesellschaft und die gesamte ukrainische Identität. Einige Berichte über unfaire Behandlung dunkelhäutiger und anderer nichtukrainischer Flüchtenden an Grenzübergängen und Bahnhöfen sind ein gefundenes Fressen für die Propaganda des Kreml. Derlei Vorfälle sind zweifellos zu verurteilen. Es soll nicht geleugnet werden, dass es zu Konflikten zwischen ukrainischen Beamten und nichtukrainischen Flüchtenden gekommen ist. Dabei gab es Fehlverhalten auch rassistischer Natur. Der Angriffskrieg, nicht aufhörender Stress und bedrängende Sorge bringen in den Menschen nicht immer das Beste zum Vorschein, obwohl dies keine Rechtfertigung für ein solches Verhalten ist. So manchem eigentlich gesellschaftlich inakzeptablen Impuls wird von Einzelnen dann nachgegeben. So ein Verhalten ist nicht die Norm. Der gesamten ukrainischen Gesellschaft deshalb eine rassistische und faschistische Grundeinstellung zu unterstellen ist aber ebenso unehrlich wie es wäre, solche Vorfälle vollkommen zu verleugnen. Dass der Kreml, der Nachbar, dies dennoch tut, entlarvt seine Strategie mehr als dass es ihm nützt. Evelyn Adunka Doch scheint unser Nachbar sich diesmal verkalkuliert zu haben. Langsam gehen ihm die Trümpfe aus. Er spielt diesmal gegen mehrere Gegner gleichzeitig, die sich seine Karten gemerkt haben. Nun muss er bluffen, als seien die zwei Sechsen in seiner Hand Trümpfe. Er wird sie sich selbst auf die Schulter legen müssen. Ganna Gnedkova wurde 1992 in Kyjiw in der Ukraine geboren . Sie wuchs zweisprachig auf, An der Kyjiw-Mohyla Akademie und der Universität Wien studierte sie Komparatistik. Sie ist Wissenschaftlerin, Buchkritikerin, Journalistin, Schullehrerin. Seit 2016 übersetzt sie Belletristik und Sachbücher vom Englischen und Deutschen ins Ukrainische und umgekehrt. Im Jahr 2020 hat ihr erster eigener Text “Mein Name sei G.” den Exil-Literaturpreis für Lyrik gewonnen. Aufeerdem war sie unter den GewinnerInnen des Godesberger Literaturpreises und des goldenen Pod Preises für Kurzprosa. 2022 erhielt sie das Raniser Debüt Stipendium und schreibt an der Erzählsammlung mit dem Arbeitstitel “Das Kind und der Tod”. Ganna Gnedkova lebt in Wien und ist mit dem österreichischen Schriftsteller Peter Marius Huemer verheiratet. Seit dem Beginn des großangelegten russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist sie Ansprechpartnerin des Medienzentrums der Ukrainischen Community. Edith Bruck, geborene Steinschreiber, wuchs als jiingstes von sieben Geschwistern im ungarischen Dorf Tiszabércel auf; ihr Vater war Fleischer und Kaufmann und fast immer auf Reisen. Er diente als Soldat in der tschechoslowakischen Armee, wurde aber bald entlassen. Edith überlebte die Lager Auschwitz, Dachau und den Todesmarsch von Christianstadt nach Bergen-Belsen; ihre Eltern wurden ermordet. Aus einem DP-Lager bei München reiste sie im August 1948 nach Israel. Der Staat war im Mai gegründet worden und befand sich bei ihrer Ankunft mitten im Unabhängigkeitskrieg. Renate Wall erwähnt im Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933 bis 1945 folgende Berufe in Ediths langem Leben: Landarbeiterin, Kellnerin, Köchin, Fabriksarbeiterin, Tänzerin und Fotomodell. Sie selbst schreibt über ihre letzte Zeit in Israel, dass sie sich als Sängerin in einem Nachtlokal in Haifa durchschlug.1954 fand Edith Bruck mit Italien eine neue Heimat; Italienisch wurde ihre Literatursprache. Ab 1955 lebte sie in Rom. Sie arbeitete als Journalistin für große Zeitungen wie Corriere della Sera und Il Messaggero, war Drehbuchautorin, Übersetzerin und publizierte über 15 italienische Bücher. Jahrzehntelang engagierte sie sich als Zeitzeugin in italienischen Schulen und für den jüdisch-christlichen Dialog. Und sie heiratete den Schriftsteller und Filmemacher Nelo Risi (1920 Mailand - 2015 Rom). Edith Bruck stand Primo Levi (1919 Turin — 1987, Freitod, Turin) nahe. Der britische Autor und Journalist Ian Thomson, einer der besten Biografen Levis, schreibt 2002 in Primo Levi: „Ihe daughter of poor Hungarian Jews, she had been a child in Auschwitz. [...] Auburn-haired, green-eyed and striking, by the time Levi met Bruck she had been a ballet dancer in Greece, a tailor’s assistant in Budapest, 6 — ZWISCHENWELT a model, a restaurant chef and a beauty-salon manager [...].” Edith Bruck führte auch ein wichtiges längeres Telefonat mit Levi vier Tage vor seinem Tod, über das in der biografischen Literatur über Levi mehrfach berichtet wird. Carole Angier berichtet in The Double Bond. Primo Levi. A Biography (2002), dass sich Edith Bruck 1982 angesichts des israelischen Libanonkriegs zum Handeln veranlasst sah: „A group of Jewish leaders and intellectuals, including Primo’s friends and fellow-writers Edith Bruck and Natalia Ginzburg, wrote an open letter to La Repubblica, calling for the withdrawal of Israeli troops, and the recognition of the rights of ‘all the peoples of the region’. They asked Primo to sign it; and on the eve of his departure for Auschwitz, he did.” 1959 erschien in Mailand Ediths Buch Chi ti ama cosi. Die deutsche Ubersetzung von Cajetan Freund mit dem Titel Wer dich so liebt. Lebensbericht einer Jiidin wurde 1961 im Scheffler Verlag in Frankfurt veröffentlicht. Es trägt die Widmung: „Meiner Mutter für ihr Brot, noch immer das wohlschmeckendste der Welt.“ Der Wagenbach Verlag brachte 1999 eine Neuauflage heraus. In diesem Taschenbuch stolpern die Leser über einige sprachliche Ungereimtheiten. Zum Beispiel steht „den Chupe“ (statt die Chupe, der rituelle jüdische Traubaldachin). Siglinde Bolbecher kritisiert in ihrer Rezension des Buches in Zwischenwelt „Fall- und Konjunktivfehler“. Der Übersetzer der Ausgabe von 1961 war der bayerische Journalist Cajetan Freund (1873 — 1962). Er war in der NS-Zeit stellvertretender Leiter des Informationsdienstes der bayerischen Landeshauptstadt München.