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Astrid Nischkauer Der Ruf Da der Ruf mich traf, — lang bevor das Schicksal noch gesprochen — hat er Werk und Schlaf, Tag und Nacht mir drängend unterbrochen. Seit ein Weg sich bot mitten zwischen steilgetürmten Steinen, hat mich keine Not mehr vermocht, um dich, mein Land, zu weinen. Als ich Abschied nahm, liebe Hand zum letzten Mal zu drücken, kehrte ohne Gram Lebenden und Toten ich den Rücken. In der Fremde nun — Land und Sprache legen mich in Ketten — kann ich nimmer ruhn: muss im Lied mein Teil der Heimat retten '? Die Dichterin, Bildhauerin, Schauspielerin, Übersetzerin und Imkerin Melitta Urbancic wurde 1902 als Melitta Grünbaum in Wien geboren. Heuer jährt sich ihr Geburtstag zum 120. Mal. Sie studierte Anglistik, Germanistik und Philosophie in Wien sowie in Heidelberg und Schauspiel bei Max Reinhardt. Die Dissertation, mit der sie ihr Studium in Heidelberg 1927 abschloss, trägt den Titel: „Der fünffüssige Jambus bei Grabbe“. Prägend in ihrer Heidelberger Studienzeit waren für sie vor allem Karl Jaspers und Friedrich Gundolf. Über ihre Gespräche in Wort und Vers mit letzterem hat sie in „Begegnungen mit Gundolf“ geschrieben, die posthum als fünftes Heft in der Reihe „Aus dem Archiv“ des deutschen Literaturarchivs Marbach erschienen sind. Darin erzählt sie von ihren Begegnungen mit Gundolf, gibt Ein22 — ZWISCHENWELT Melitta Urbancic, Kinderkopf (Tochter Erika, 2 Jahre) blick in ihr eigenes Leben, Denken und ihre Poetik: Vielleicht liegt eine der geheimen Wurzeln jeder Produktivität — auch der geistigen — im Beachten der Gezeiten, deren Rhythmus die schöpferischen Kräfte unterstützend trägt, aber, missachtet, immer wieder hemmt und gefährdet.’ 1930 heiratet sie den Komponisten und Dirigenten Victor Urbantschitsch (später änderte die Familie ihren Namen auf die einfachere slowenische Schreibweise Urbancic). 1933 musste die Familie von Deutschland nach Österreich fiehen, da Melitta Urbancic Jüdin war und sich für die Friedensbewegung engagiert hatte. Nach dem Tod ihres Vaters konvertierte Melitta Urbancic zum Katholizismus. Nachdem Victor Urbancic sich vergeblich um Kontakte wegen einer möglichen Anstellung in den USA oder der Schweiz bemüht hatte, ermöglichte ihm 1938 ein Postentausch mit seinem ehemaligen Studienkollegen Franz Mixa, alleine nach Island vorauszufahren. Melitta Urbancic kam ein Monat später in allerletzter Minute mit den drei Kindern, einem Koffer, gültigen Papieren und ohne Geld nach Island nach. Ihre Mutter musste sie allerdings alleine auf dem Bahnhof in Wien zurücklassen, ein Trauma, das Melitta Urbancic ihr Leben lang begleiten sollte. Die Mutter starb 1943 im KZ Theresienstadt. Rudolf Habringer hat 2008 ausgehend vom Schicksal der Familie Urbancic und mit besonderem Fokus auf Victor Urbancic seinen Roman „Island-Passion“ geschrieben. In „Zwischenwelt“ erschien 2003 ein Aufsatz von Rudolf Habringer, der die Ergebnisse seiner mehrjährigen Forschungsarbeit dokumentiert und die Schwierigkeiten und Querelen, denen Victor Urbancic zeitweise ausgesetzt war, sehr gut und anschaulich zusammenfasst. Rudolf Habringer meint darin: Ursprünglich hatte die Familie Urbancic wohl mit einem kurzen Krieg und mit einer baldigen Rückkehr nach Österreich gerechnet. Mit Fortdauer des Krieges allerdings wurde klar, daß man sich auf einen längeren Aufenthalt in Island einzustellen hatte. Dr. Melitta