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Urbancic war der Wechsel nach Reykjavik viel schwerer gefallen als ihrem Mann, der rasch berufliche Erfolge feiern hatte können. Sie unterstützte ihren Mann nach Kräften, war aber auch selbst beruflich aktiv und unterrichtete an einer Sprachschule (und kurz auch am Gymnasium) Englisch, Französisch und Deutsch und gab Privatstunden.‘ 1949 erhielt Victor Urbancic die Isländische Staatsbürgerschaft und mit ihm automatisch auch Melitta Urbancic und die vier Kinder. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges kehrte die Familie Urbancic nicht nach Österreich zurück, und Melitta Urbancic blieb auch nach dem frühen Tod Victor Urbancics mit nur 54 Jahren in Island wohnhaft, wo sie 1984 starb. Begraben ist sie jedoch in Purkersdorf bei Wien. Wem der Lärm verstummt tönt die Stille. Wem die Rede stirbt reift das Wort. Wem der Wunsch versiegt wächst der Wille. Wer nicht Halt sucht wird selber Hort. Wer nicht Spuren folgt gräbt die Fährte. Wer nicht Freunde wirbt wird Freund sein. Wem die Ferne selbst Nähe gewährte, ist allein in Wahrheit all-ein. Wer dem Schein erblindet wird schauen Das LICHT in der Finsternis. Nur wer namenlos wird darf bauen am Dom seiner Dauer gewiss I’ Zu Lebzeiten hat Melitta Urbancic nur einzelne Gedichte in Anthologien veröffentlicht. Posthum wurde 2011 aus Anlass des Gastlandauftrittes Islands auf der Frankfurter Buchmesse eine Ausstellung über Melitta Urbancic und ihr Werk im Literaturhaus Wien gezeigt, die dann in weiterer Folge zur Veröffentlichung des Bandes „Vom Rand der Welt“ geführt hat, der derzeit in dritter Auflage vergriffen ist. Eigens für den Band wurde eine Auswahl ihrer Gedichte ins Isländische übersetzt, damit die Isländische Bevölkerung nachvollziehen könne, welch große Dichterin unter ihnen gelebt hatte. Im ersten Abschnitt „ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN“ verhandeln die Gedichte den schweren Prozess des Ankommens in einem völlig fremden Land. Im zweiten Kapitel „HIER UND HEUT“ gehtes dann um isländische Orte und Natur und es tauchen Figuren aus der isländischen Mythologie auf, so schreibt sie über die Ingolfur-Statue, zu Ehren des Wikingers Ingölfur Arnarson errichtet, mit welchem der Überlieferung nach zwischen 870 und 930 die Besiedlung Islands begonnen haben soll. In einem anderen Gedicht geht es um den Helgafell, einen Berg und ehemaliges Heiligtum der Wikinger. Und in wieder einem anderen Gedicht geht es um Baldur, den Lichtgott aus der Edda. An dieser Stelle wäre ergänzend zu erwähnen, dass Victor Urbancic isländische Volkslieder zusammengetragen und für gemischten Chor und Frauenchor gesetzt hat. Für eine Ausgabe von fünfzig dieser Lieder hat Melitta Urbancic singbare Übersetzungen ins Englische und Deutsche angefertigt. Einer der größten musikalischen Erfolge Victor Urbancics war 1943 die Aufführung von Bachs Johannespassion, wobei er die Choräle Bachs mit den auf Isländisch verfassten und in Island bis heute sehr bekannten Passionspsalmen von Hallgrimur Pétursson, einem isländischen Zeitgenossen Bachs, unterlegte. In Melitta Urbancics bislang einzigem veröffentlichten Gedichtband „Vom Rand der Welt“ überwiegt zunächst die Erleichterung, gerettet zu sein, zugleich aber auch die Empfindung einer großen Fremdheit und Einsamkeit im unbekannten und alleine schon vom Klima her sehr abweisendem und dunklen Land. Im Verlauf des Bandes lässt sich aber ein allmähliches Versöhnen und Ankommen beobachten — „Mein Fuss schlägt Wurzeln hier.“ —, das vor allem dank der Natur möglich wird, die zu trösten vermag und zugleich eine Verbindung zur fernen Heimat herstellt. ERSTES LIED Heut hab ich seit langem wieder einen Vogelruf gehört, hell von hohem Firste nieder, unbekümmert, ungestört. Zwischen Fremden umgetrieben, ohne Ziel und ohne Hoffen, bin ich plötzlich stehn geblieben, vom vertrauten Laut getroffen. Wie beim Namen angesprochen, hab ich Blick und Herz gehoben, fernste Erde nah gerochen, langverhaltne Süsse droben aus dem ärmlichen Gefieder jubelnd mit hinausgeschwungen — Heut hat es seit langem wieder mir im Innern aufgesungen ! Im Nachlass gibt es noch zahlreiche Manuskripte zu entdecken. Während von einigen ihrer Manuskripte fertig geklammerte und damit in einem Heft zu lesende Fassungen vorliegen, gibt es von ihrem Opus magnum, „FERNE NÄHE. Ein Requiem“, an dem sie bis zuletzt arbeitete, keine solche Fassung, sondern ein großes, 250 Gedichte umfassendes Konvolut an einzelnen maschinengetippten Blättern. Dieses Manuskript besteht zum einen aus Gedichten, in welchen sie die Trauer um den frühen Tod ihres Mannes verarbeitet, zum andern aber aus Gedichten aus früheren Sammlungen. Mit dem Untertitel, der Kapitelunterteilung August 2022 23