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Neue Texte Dilan Canbaz Mein eigenes Dasein “Mein eigenes Dasein begann mit dem Kampf gegen den Hunger.” Überaus müde, viel zu schnell zu müde war ich für all das geworden, was die Menschen stets über alles liebten, schätzten, begehrten, für das Glück des Lebens hielten. Während ich mich als ein Weltverlorener nach ewiger Ruhe, nach endgültigem Frieden sehne, der nur mir allein nie zuteil werrden konnte, befassten sich fast alle mir bekannten Menschen in meiner Nähe mit höchst realen Dingen. Mag sein. Ich bin neidisch gewesen auf ihr geschäftiges Tun, weil dieses Tun meine seelischen Qualen nicht linderte. Vermutlich habe ich bloß mehr als die anderen Menschen, denen ich bisher begegnet bin, erlebt und erfahren. Ich fühlte mich immer viel älter, als ich war. Nur mit Mühe empfand ich Freude. Ich vermochte das Leben nicht einfach hinzunehmen, wie es war. Von meiner Mutter bekam ich zu hören:: „Du bist im Nordirak an der iranisch-irakischen Grenze in Haji Ome-ran auf die Welt gekommen.“ Ich kann an mich diesen Ort nicht erinnern und habe das Gefühl, nie dort gewesen zu sein. Mein Vater hatte als ein angesehener Nuss- und Obsthandler an der irakisch-iranisch-tiirkischen Grenze begonnen. Als die Baath-Partei am 17. Juli 1968 im Irak wieder an die Macht kam und das irakische Militär in der Grenzregion wütete, verließen wir über Nacht unser Dorf und unsere von den Großeltern ererbten Ländereien, die wir ohnehin nicht mehr bestellen hätten dürfen. Das war der Tag, an dem meine Mutter und ich zu Flüchtlingen und Nomaden wurden und mein Vater gezwungenermaßen zum Kolber, zum Schmuggler. Mit einem Mal bestand unser Besitz nur mehr aus zwei Maultieren und einem Pferd. Sie waren schwer mit unserem Hab und Gut beladen. All das zusammen war fiir mich Heimat gewesen. Was man als Heimat fühlt, wozu sie überhaupt da ist oder gut sein kann, habe ich nie erfahren. In meiner Kindheit hatte Heimat keinen besonderen Stellenwert in meinen Gefühlen. Der Kampf ums Überleben war wichtiger. Mit dem Vater wanderten wir von einer Grenze zur anderen, von einer Ortschaft zur nächsten. Wenn wir irgendwo von den Einheimischen aufgenommen wurden, konnten wir uns ein bisschen erholen und blieben so lange, bis der Vater wieder von irgendeiner Grenze der drei Länder zurückkam. Ansonsten mussten wir ihn begleiten. Diese Tage waren überaus anstrengend, aber auch aufregend für mich. Mein Vater schmuggelte Zigaretten vom Irak in den Iran und zurück hauptsächlich Obst, Äpfel und Pistazien. Je mehr Schnee lag, desto gefährlicher waren die Übergänge, umso höhrer die Einnahmen. Mein Bruder Behjan wurde höchstwahrscheinlich unterwegs auf der ständigen Flucht zwischen den Grenzen gezeugt. Geboren wurde er im iranischen Kurdistan. Mit Ach und Krach, über hundert Wege und Umwege, wurde ihm eine iranische Geburtsurkunde ausgestelt. Nun war Behjan Iraner. Deshalb — und weil der Winter in diesem Jahr überaus kalt und verschneit war — mussten wir in Zelten der Partisanen der kurdischen kommunistischen Partei nahe der Grenze überwintern. Es war malerisch und friedlich, solange keine schwer bewaffneten Kampfllugzeuge uns überflogen und Bomben abwarfen. Als ein Jahr später in der Türkei Sherko geboren wurde, wollte mein Vater ihn nicht registrieren lassen, es gab auch gar keine Möglichkeit, ihn anzumelden. Das Dokument hätte in unserem Fall nicht viel bedeutet. Wir wussten nicht, welche Zukunft uns bevorstand und ob unsere Flucht je ein Ende finden würde und ob wir uns irgendwann wieder sesshaft machen könnten. Meine Mutter litt am meisten unter dieser ständigen Ungewissheit. Ich konnte sehen, wie sie in sich hinein weinte und verstohlen die Tränen abwischte. Da der Handel mit Alkohol — „Whisky“ - an der türkisch-iranischen Grenze mehr Gewinn einbrachte, blieben wir bei Bekannten meines Vaters in einem türkischen Dörfchen namens „Alan“ unweit der irakischen Grenze. Ein kleines Zimmer stellte man uns in einem Lehmhäuschen, das noch drei weitere Familien mit vielen Kindern beherbergte, zur Verfügung. Diese Lebensart störte uns gerade nicht, wir hatten uns und alles, was man zum Überleben benötigte. Mein Vater liebte uns, vor allem meine Mutter. Er nahm jede Beschwernis auf sich, um uns ein sorgenloses Dasein zu bieten. Der Wunsch der Mutter, einmal frei von Angst und Zweifel sein zu könnern, war nicht zu erfüllen, nicht in diesem Leben mit so vielen Risiken und Gefahren, und vielleicht in keinem anderen mehr. Der Vater war dennoch stets fröhlich. Wenn er einen freien Tag hatte, lachten wir viel, meine Mutter auch. Ob seine Zuversicht auch aus seinem Inneren kam oder ob er sie nur uns zuliebe zeigte, konnte ich nicht herausfinden. Ich fand alles zusammen abenteuerlich aufregend. Allein das Spiel mit den Nachbarskindern und mit den Tieren, die frei herumliefen, den Eseln und Katzen, machte Spaß. In dieser Freiheit durften wir uns vieles erlauben und den Krieg, dessen Gesicht immer und überall da war, verdrängen. Eines Tages kam Vater nicht mehr zurück. Angeblich war er von türkischen Soldaten nahe der Grenze gehetzt worden und auf der Flucht in ein Minenfeld geraten. Man hatte nur mehr Teile seines Körpers gefunden, die man zerstreut in dem Minenfeld liegen lassen musste. Das war das Allerschlimmste für Mutter, mich und uns. Ich war der Älteste, Behjan war eineinhalb Jahre alt, Sherko ein paar Monate. Wir standen plötzlich ohne jeden Schutz da, wussten nicht, wohin wir uns wenden und was wir tun sollten. Wie versteinert saß meine Mutter da. Nach Tagen verließ sie unser winziges Zimmer immer noch nicht. Dieses Erlebnis, völlig verlassen zu sein, blieb in mir, gewiss in uns allen, bestehen und war unbewusst maßgebend für alles Weitere in meinem Leben und dem der anderen Mitglieder meiner Familie. Bekannte verschafften mir — und wir waren voller Dankbarkeit dafür —, nach Monaten Arbeit auf einem Berg direkt an den Grenzen aller drei Kurdistan beherrschenden Mächte. In dieser Ecke scheidet das riesige Zagros-Gebirge, dessen höchster Gipfel über 4400 Meter erreicht, Süd-, Ost- und Nordkurdistan. Durch meinen Vater kannte ich mich in der Gegend gut aus. Nach einer mühsamen AuAugust 2022 47