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tofahrt mussten wir noch drei Stunden den Berg zu Fuß aufwärts gehen. Es war August, dennoch lag da und dort Schnee. Auf dem Plateau zeigte mein Begleiter auf das Häuschen, in dem ich aufgenommen werden sollte. Ich freute mich auf die Begegnung mit den Partisanen der kommunistischen Bewegung Kurdistans, von denen mein Vater schr eingenommen war, und darauf, meiner Mutter nun Geld schicken zu können. Am Rande des Plateaus erhob sich ein kleiner Hügel. Das winzige Lehmhaus, in dem Azad — der Besitzer — das Teehaus „Chaikhana“ betrieb, versteckte sich direkt im Abhang neben einem Felsen, davor stand ein großer Nussbaum. Ein traumhafter Ausblick bot sich. Der Raum, in dem ich gelangte, als ich über die steinerne Schwelle durch die Holztür des Teehäuschens trat, war vielleicht zweimal so groß wie unser einstiges Zimmer zuhause. Seine Ausstattung strahlte Behaglichkeit, Sauberkeit und Gefühlswärme aus. Das und insbesondere die ruhige Art Azads, des Besitzers, die für mich sehr wichtig war, zerstreuten meine anfänglichen Besorgnisse. Teppiche überall, am Boden, an der Decke, an den Wänden und auf den eingemauerten Sitzplätzen, die aus einem Gemisch von Lehm und Stroh bestanden. Ein kleiner Lagerraum und ein winziges Bad waren noch dabei. Das Klo war draußen neben dem Stall für das Vieh, das hauptsächlich für den Eigenbedarf gehalten wurde. Azad erklärte mir meine täglichen Tätigkeiten und zeigte mir auch den Sammelplatz der Schmuggler, an dem ihre Pferde gefüttert und anschließend mit Alkohol, Äpfeln, Zigaretten, Teppichen, Pistazien und Tee beladen werden mussten. Das war ebenfalls mein Arbeitsplatz, zwanzig Meter vom Chaikhana entfernt. Azad war mein Chef. Das Gefühl, dass ich viel von diesem Mann lernen konnte, war sofort da. Fels und Gestein beherrsechten das Bild dieser wunderbar unberührten Landschaft. Außerdem fanden sich fünf Häuschen, deren Wände ebenfalls aus Lehm und deren Decken aus roter Erde, geflochtenem Stroh, Baumstämmen, Ästen und Abdeckmaterialien wie Blech, stellenweise Nylonsäcken bestanden, in einem Abstand von 100 bis 200 Metern voneinander entfernt. Aus der Ferne konnte man sie leicht mit Felsen verwechseln. Sie mussten möglichst versteckt sein, nicht nur, um sie vor den Kampfllugzeugen, sondern auch vor Wind und Schnee zu schützen. Die Bewohner waren Geflüchtete aus allen drei Teilen Kurdistans. Sie betrieben Grenzhandel, bauten Gemüse und Getreide an und hielten Tiere für den Eigenbedarf. Hier lebten diese Familien in einer Freiheit, um die sie nicht stets bangen mussten. Hier spielten die Kinder nicht. Fast genauso wie alle anderen waren sie in den physischen Überlebenskampf eingebunden. Außer moralischen Gesetzen gab es keine. Militär zeigte sich keines, auch kein Zeichen von ihm. Vorbei kamen die Peschmerga, die „Freiheitskämpfer“. Ihre Stützpunkte waren nicht weit von uns. Sie wurden gern gesehen. Sie trugen aber auch Waffen. Dafür hätte mein Vater kein Verständnis gehabt: „Der Mensch muss ohne Waffen zurecht kommen. Waffen machen Menschen unmenschlich, weil ihr Gebrauch und ihre Produktion mit jeder Menge schlimmer Absichten verbunden sind, die wir kleinen Leute nicht durchschauen“. Auf dem Sammelplatz sattelte, zäumte und belud ich die Pferde mit geschmuggelter Ware, die dort mit Plastikplanen bedeckt für den Weitertransport bereit lag. Um fünf Uhr morgens brachen sie zum Grenzübergang auf und kamen meist gegen Mittag zurück — wenn nichts passiert war. Ich war kein Frühaufsteher, musste aber immer vor fünf Uhr am Sammelplatz sein. Waren sie alle unterwegs, war das primitiv gebaute Techaus Chaikhana, dessen Decke innen aus großen Holzbalken bestand, dessen Wände mit Kalk und Lehm 48 _ZWISCHENWELT verputzt waren, menschenleer. In dieser stillen Zeit wollte ich etwas anderes aus mir machen, ich wollte mir selbst Lesen und Schreiben beibringen. Es war mein eigener Wille; aber ich hatte auch keine andere Möglichkeit. Azad, der Besitzer des Hauses, war nicht gesprächig. Er war des Lesens und Schreibens kundig. Er war Schüler in einer Koranschule gewesen. Ich stellte bald fest, dass er dank seiner Geschäftstätigkeit außer seiner Muttersprache Kurdisch auch fließend Arabisch und Persisch sprach. Wir vereinbarten, dass ich ihm beim Abwaschen und Aufräumen half und er mir das Lesen und Schreiben lehrte. Über den ganzen Tag verteilt, lernte ich vier bis fünf Stunden. Ich schlief ungefähr sechs Stunden, in der sonstigen Zeit arbeitete oder lernte ich. Ich hatte nicht viel Grund zu klagen. Die Pferde, Azad und die Händler waren jetzt meine zweite Familie und das Teehaus Chaikhana mein neues Zuhause. Ich schlief auf dessen Boden und war sehr dankbar für das Essen, das mich fast nichts kostete. Ich hungerte nicht. Essen war nicht so wichtig: Mir war wichtiger, nach Möglichkeit nichts von meinem verdienten Geld zu verbrauchen. Das Frühstück bestand in der Regel aus Linsensuppe und Naan, „Kurdischem Brot“. Wenn die Wege schneefrei waren, gab es für die Gäste auch Schafjoghurt, Spiegelei und gekochtes Ei. Fleisch hatte ich in jener Zeit selten. Es war sehr teuer. Oft brachten die Flüchtlingsfamilien der Nachbarschaft Azad gebührende Abgaben vorbei, die gelegentlich auch Fleisch enthielten. Nur wenn nicht viel Schnee lag, übernachtete ich einmal im Monat zuhause, das war an meinem freien Tag. Da ich kein Geld ausgab, erhielt meine Mutter fast meinen ganzen Verdienst. So konnte ich leben, lachen und glücklich sein. Die Mutter konnte sich Reis, Zucker und Öl für den ganzen Monat leisten und mit ein paar Sorgen weniger leben. Sie verdiente auch mit Brotbacken ein bisschen Geld. Behjan verkaufte das Brot in unserer Gasse, wenn meine Mutter keinen Abnehmer hatte. Der Dorfvorsteher war uns, die wir keine türkischen Papiere hatten, eine große Stütze. Er deckte uns und sagte jedem: „Sie sind meine Gäste.“ Er hatte meinen Vater sehr gut gekannt und wusste, dass wir keine andere Wahl hatten als hier zu bleiben. Der Herbst ging fast dem Ende zu, schnell wurden die Tage kälter, windiger. Im Haus war es noch dunkler geworden. Das einzige Tageslicht fand sich nahe am Fenster, hier schien die Sonne herein, da konnte ich ohne Mühe lernen, endlos die Idylle dieser Landschaft, den Übergang einer Jahreszeit zur nächsten verfolgen, beobachten, wie der pfeifende Wind die verfärbten Blätter der Bäume hin und her schaukelnd mit sich wehte, diese Tag für Tag mehr entlaubte. Andächtig wandte ich meinen Blick dem Fluss zu. Dort, in der Ferne, erblickte ich häufig einige weibliche Wesen, die einmal am Vormittag Wasser holten und am Nachmittag Geschirr und Kleidung wuschen. Sie weckten Mal für Mal sehnsüchtige Gefühle in meiner Brust. Ich dachte an meine Mutter und träumte ohne Ende von ihnen, wenn ich mich allein gelassen und einsam fühlte. Die frühe Trennung von der Mutter war gewiss hart für mich gewesen, wenn ich auch freiwillig gegangen war und jetzt so tat, als ob ich bewusst über all dem stünde. So, auf diese Art, rettete ich mein Inneres, meine Seele davor, in Einsamkeit dahinzuwelken. Eine dieser weiblichen Gottheiten, die ungefähr in meinem Alter war, fiel mir von Statur und Gang her auf. In der Entfernung war ihr Gesicht nicht gut zu erkennen, aber wie sie sich bewegte, umwandte, niederließ, wirkte alles zusammen harmonisch und anmutig auf mich. Jeden Tag kam sie allein, bepackt mit Geschirr, Kleidung und Kanistern, stets näher am Techaus vorbei. Tapfer sah sie aus, sie erinnerte mich an meine Mutter, wirkte auch verträumt wie diese. Jedes Mal spürte