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etwas erreichen zu können, fühlte sich einerseits komisch, andererseits beruhigend an. Bewusst zu lügen war gegen meine Erziehung. Aber in jener Nacht konnte ich ohne schlechtes Gewissen schlafen, und wenn das Jaulen der Hunde mein Ohr erreichte, musste ich nicht mehr an ihren Hunger denken. Vielleicht war das unbewusst auch eine Art Selbstschutz. Ich liebte Tiere, vor allem diese Hunde, sogar mehr als Menschen. Das verriet ich natürlich niemanden. Ich sah jeden Tag nach den Hunden. An schlechten Tagen war mir ihr vertrauter Anblick der beste Trost. Das bisschen Nahrung war das Geringste, was ich ihnen dafür geben konnte. Azad legte gleich für jeden ein Ei auf den Ofen, holte eine Schale Joghurt, zwei Kulera und dazu schwarzen Tee. Wir aßen unser Mittagessen. Trotz aller Ungewissheiten nahm ich dabei die Dankbarkeit meiner inneren Stimme wahr. Sie war optimistisch, sagte stetig: „Es ist so, wie es sein soll.“ Das war nicht von mir, aber tief in mir. Viele missliche Begebenheiten konnte ich damit ausgleichen. Der Mangel an Nahrung beschäftigte mich fast nie, ich konnte Tage lang mit leerem Magen ausharren. Nicht zu verscheuchen waren aber die sorgenvollen Gedanken an den Vater und die Mutter. Um mich abzulenken dachte ich jedes Mal an Shilan. Dann, um mich von all diesen Grübeleien zu befreien, dachte ich an die Hunde. All das zusammen bereitete mir Kopfzerbrechen. So hatte ich begonnen, als einmal Zeit dafür war, mich mit Begriffen wie Gerechtigkeit und Freiheit zu beschäftigen. Als die Wege allmählich wieder frei wurden, tauchten die Peshmerga und ein paar Händler auf und mit ihnen auch die Nachricht vom Tod meiner Mutter. Das war der Tag, an dem mich das Schicksal auf der Stelle zwang, sofort, ohne Zögern, auch innerlich ein erwachsener Mann zu werden. Das war mein Sturz in die Tiefe, in der nur Trauer war. Ich weinte bittere Tränen eines Erwachsenen und wollte laut heulen wie ein Kind, das seine Mutter verloren hat. Längst war ich kein Kind mehr. Ich hatte mich hinter dem harten, kernigen Mann zu verstecken, der ich jetzt nicht sein wollte, aber sein musste. Mein innerer Zwiespalt erzeugte kindliche Wünsche, die ich mir nie zu äußern erlaubt hätte. Insgeheim tat es mir immer leid, dass ich nie wieder Kind sein konnte, obwohl ich es eigentlich — dem Alter nach — war. Ich war zwölf Jahre, als ich die Verantwortung für meine Familie übernahm. Ich las im Koran, las etwas über Gott, fragte mich, wo er denn war, als meine Mutter krank wurde. An Gott hatte ich nie recht geglaubt, fand das auch nicht notwendig. Aber in dieser Zeit habe ich Gott gänzlich verloren. Dieses glaubenslose ICH verbarg ich tief. Konnte ich überhaupt selbst noch hingelangen? Dort war auch die Zufluchtsstätte für das kleine Kind in mir und meine anderen Geheimnisse. Hätte mein Vater noch gelebt, hätte er meine tapfere Einstellungen sicher begrüßt. Als er einstmals zu sagen pflegte: „Gott ist überall und in allem, was Bestand hat“, hatte ich ihn nicht begriffen. Die paar Partisanen der kurdischen kommunistischen Partei, von denen ich heimlich auch Texte über Kommunismus bekommen hatte, hätten es auch verstanden. Azad und all die Anderen hätten mich vielleicht aber gnadenlos verflucht und verjagt. In meinem Inneren war ich schon immer viel älter gewesen, auch meine Eltern hatten das gesagt. Viele Bekannte waren der Ansicht: „Du verhältst dich wie ein alter Mann“. Jetzt sprach ich wie ein alter Mann, bewegte mich wie ein alter Mann, und meine Hände waren ebenso alt und rau wie die eines Alten. Der kleine Sherko wurde in der Türkei adoptiert. Behjan musste ich übernehmen. Für ihn bot mir Azad einen Platz neben dem Pferde50 ZWISCHENWELT und Hühnerstall an. Dort, wo auch das Heu gelagert wurde, war es warm. Ich schlief jetzt neben ihm. Dass Behjan nun in meiner Nähe war und ich die Nächte nicht mehr allein verbringen musste, freute mich. Wir hatten Spaß, haben auch gelacht. Mit Sherko wäre ich überfordert gewesen. Wahrscheinlich hätte ich das nicht geschafft. Der Tod meiner Mutter war überaus tragisch für mich. Ich tröstete mich damit, dass sie mit ihrer feinen Art in dieser Welt nur weiter gelitten hätte. Die Rohheit des Lebens, die ich seit dem Tod des Vaters verspürt hatte, musste sie jetzt nicht mehr erleiden. Sie hatte sich nie beklagt, war kein Mensch vieler Worte. Sah ich sie jedoch an, entdeckte ich sofort den Schmerz und all die Leiden, die sie umgaben. Diese Sorge war nun vorbei. Mit mir selbst hatte ich schon längst kein Mitleid mehr. War das normal? Ich wusste es nicht. Ich blickte einfach die hungrigen Hunde an. Alles, was bis dahin in meinem Leben geschehen war, war nicht das Schlimmste in dieser Welt, das wusste ich. Mit dem eigenen Leid hatte ich immer viel besser umgehen können, als damit, andere leiden zu sehen. Dass ich schnell vergaß, war gut. Und Shilans Anblick versetzte mich in eine heile Welt, in der alles rosig schien. Sie ersetzte mir jedes Mal ein wenig von der mütterlichen Wärme, der Wärme, die ich am meisten vermisste und unbedingt benötigte. Inzwischen konnte ich ein wenig Arabisch und Persisch. Die persische Sprache war meiner Muttersprache Kurdisch sehr ähnlich. Durch die Händler, Partisanen und all die anderen Menschen, die bei uns Rast machten, war ich wie sie eine Mischung der Länder geworden, die sie in sich und mit ihren Gütern herumtrugen. So war ich nicht nur heimat-, eltern- und gottlos, sondern langsam auch gesichtslos geworden. Je mehr Geheimnisse ich vor den anderen Menschen hatte, desto mehr musste ich mich verstellen und verlor mich selbst, das kindliche Wesen ohne Unterschied zwischen außen und innen. Ich versteckte mein wahres ICH. War dies gut oder schlecht? Auch dafür gab es keine Schule. Jedenfalls hatte ich ein Dach über dem Kopf, bekam für meine Arbeit drei Mahlzeiten und konnte meinen Bruder mit Nahrung versorgen. Ein bis zwei Mal die Woche schlief Azad zuhause bei seiner Familie und überließ mir das Haus. Das traute er mir zu. Er hatte zwei Kinder und eine alte Mutter. Ich verehrte ihn. Er gab mir Halt, wenn ich Halt suchte, Herzenswärme, wenn mir seelisch fror. Er war der Frieden, den ich sonst nicht kannte, der mich besänftigte. Mit sechzehn Jahren war ich schon 1,75m groß. Ich war sehr schlank, hatte braune Haare, ein schmales Gesicht und Bartwuchs an manchen Stellen. In den Augen anderer war ich ansehnlich, und von der schweren Arbeit her sehr muskulös. Meine Kräfte ließen sich mit jenen eines Bären vergleichen. Behjan genoss die Natur und die Tierwelt. Er fühlte sich dort wohl und als Teil der Landschaft. Kaum fand er ein wenig Zeit — auch er musste viel arbeiten — verschwand er im Wald. Stets kam er mit Pilzen und Kräutern zurück und berichtete ausführlich. Ich lernte viel von ihm. Wir wurden die besten Freunde. Ruhig war ich nie gewesen. Die Gedanken an Shilan, die mich an die Bergwelt fesselten, trieben mich andererseits dazu fortzugehen. Denn wie sollte ich mit dem geringen Erwerb, den ich hier hatte, je Shilan zur Frau nehmen können? Ich wollte herausfinden, was die Welt noch zu bieten hatte; über eine andere Welt außerhalb meiner jetzigen hatte ich schon viel zu viel gehört. Je mehr ich diese andere, neue Welt idealisierte, desto begieriger wurde ich, sie kennenzulernen. An freien Tagen ging ich immer öfter in die Grenzstädte, blieb häufig auch über Nacht dort. Das Leben dort gefiel mir, alles