OCR
kam mir leichter vor. Ich lernte Geschäftsleute kennen, sie gaben mir Aufträge. Wohin sollte ich mich wenden? Um jemanden zu Rate zu ziehen, war ich zu verschlossen. Shilan hätte ich am liebsten um Rat gefragt, das ja. Aber was hätte das geholfen? Vielleicht hätte ich versucht, sie von dieser neuen Welt zu überzeugen. Behjan war zu einzelgängerisch, er hätte sicher „Nein“ gesagt. Behjan vermied zu allen Menschen engen Kontakt, außer zu Azad. Ich war mir sicher, dass er solche Wünsche und Erwartungen wie ich nie hegte, nicht teilte. Er wirkte so gelassen und stabil in seiner Art. Als ich das Azad gegenüber erwähnte, lachte der: „Was möchtest du von mir hören? Was fehlt dir hier? Du weißt längst meine Meinung!“ Die Idee, in der Stadt Fuß zu fassen, mehr Geld zu verdienen, das ruhige Leben auf dem Berg hinter mir zu lassen, zog mich an, und der Gedanke, dass ich jederzeit hierher zurückkehren könnte, war eine Hilfe. So legte ich immer mehr Holz auf dieses Feuer, bis es so groß wurde, dass es alle anderen Feuer verschlang. Der Frühling war fast vorbei, Azad wusste, dass ich die Berge verlassen würde. Behjan hatte nichts mehr dagegen, war aber keinesfalls bereit, mir zu folgen. Er hatte seine Heimat gefunden, hatte sich in das einface Leben verliebt, in die Felder und Wälder, war fröhlich über alles, was er unaufhörlich lernte. Kurdistan existierte für ihn nur an diesem Ort, wo keine Diktatoren und kein Krieg herrschten, wo Herzensgüte, Mut und die Berge waren. Er war noch ein Kind und trotzdem ohne Wenn und Aber im Geiste, Ernst Karner Im Schutz der Nacht Die Nacht bietet keinen... Die Nacht bietet keinen Schutz für die angekommenen Flüchtlinge. Im Gegenteil: Sie schützt die, die sie über die Grenze zurückschieben. In totaler Dunkelheit. Über das Wasser getrieben, zurückgedrängt über die unsichtbare Linie. Ausgesetzt. Der österreichische Lyriker Ernst Karner hat zuletzt Elisabeth Frischaufs Langes Gedicht "Die meine Hand ergreifen", das in der Reihe "Nadelstiche" erschienen ist, ins Deutsche übersetzt. mit anderen Worten: eine Persönlichkeit. Kindsein hatte sich nach dem Tod des Vaters und der Mutter keiner von uns leisten können, nicht im Traum und schon gar nicht auf der Zunge. Während ich mich nun Tag für Tag ungeduldiger auf den Abschied von diesem schlichten Leben vorbereitete, hielt sich Behjan möglichst im Hintergrund. Vom Abschiednehmen ließ er sich schweigend und gelassen erfassen. Das bestimmte gewiss nicht sein Verstand, sondern eine andere Art der Intelligenz, eine höhere Macht als der Intellekt. Diese Festigkeit und Entschlossenheit, die ich in mir nicht finden konnte, hatte ich bei ihm stets gespürt. Er war damit viel weiter als ich und etwas Besonderes. Ich war darauf neidisch. Sherko war mit seiner neuen Familie nach Diyarbakyr, der Hauptstadt Kurdistans, gezogen. Da sein Name zu kurdisch klang und auffällig war in der Türkei, erhielt er einen anderen Namen: „Sedat“. Wir hörten nie wieder voneinander. Dilan Canbaz wurde 1973 als Karzan Noori in Sulaimaniyya im irakischen Kurdistan geboren. Im Alter von 22 Jahren kam er nach Graz. 2012 begann er Prosaiexte und Erzählungen auf Deutsch zu schreiben. Seine Texte entstehen u.a. aus alltäglichen Beobachtungen und persönlichen Lebenserfahrungen. Zuletzt erschien „Gespür. Erzählung aus Graz“ (Morawa Lesezirkel 2019). Der vorliegende Text ist ein Kapitel aus dem in Arbeit befindlichen Roman „Der Mann ohne Gesicht“. die Töchter verkaufen damit die Eltern eine Chance haben davonzukommen sie kommen nicht davon sie bleiben wo sie sind die Töchter nach einem Monat zurückgekehrt um einige Erfahrungen reicher die Reichen von außerhalb bestellen sich die Töchter sie kaufen sie ihren Eltern ab nach getaner Tat schicken sie sie zurück: nicht entsprochen vielleicht haben sie sich etwas anderes vorgestellt wollen Abwechslung in ihrem Einerlei im Einerlei des Flüchtlingslagers geht es nur um eines: zu überleben von einem Tag auf den andern und dazu ist jedes Mittel recht auch das ihre Töchter zu verkaufen sie kommen zurück wenn sie estun zerstört gebrandmarkt bis auf die Knochen in ihrer eigenen Seele nicht mehr zu gebrauchen menschlicher Schutt was haben ihre Eltern davon und die sie bestellt haben erworben sie kommen sich noch gut dabei vor oder zergehen in Scham wenn es herauskommt wer kommt heraus wer ist hineingekommen die von tödlicher Gefahr Bedrohten wir wissen es August 2022 51