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tete Hauptstraße ein, da standen sie vor mir und starrten auf ein leuchtendes Auslageschild. Der Leib der Frau hatte jetzt wieder den alten Umfang, sie standen nebeneinander Hand in Hand. Der Reflektor des großen Warenhauses blitzte auf und suchte den Himmel ab; einen Augenblick standen sie in seinem grellen Licht, sie sahen sich an und lächelten glücklich, verzaubert, sehnsuchtslos. Was mit dem Kind geschehen war, ob es tot zur Welt kam oder erst nachher starb, habe ich nie erfahren. Ich fragte die Frau, aber sie lächelte nur und schüttelte gutmütig den Kopf. Nichts war in ihr zurückgeblieben. Das Gesicht des Mannes verfinsterte sich nicht. Vor einem Nachtlokal begann sich eine Lichtmühle zu drehen. Sie Livia Getreider ließen mich stehen und gingen diesem Lichte zu. Langsam, Schritt für Schritt. Glücklich, Hand in Hand. Erstdruck in Neue Freie Presse, 25. Dezember 1931, S. 41, wo Mellers Kurzgeschichte mit folgendem Satz eingeleitet wurde: „Die folgende Skizze der Autorin von ‚Leutnant Komma‘ wird besonderem Interesse begegnen.“ Erschienen ist im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft von Rose Meller der Roman „Justiz in Amerika“ mit einem ausführlichen Nachwort von Alexander Emanuely. Huberman (1882 - 1947) Im Dezember 2021 wurde ich von einer Freundin auf ein Video im Internet hingewiesen; eine Aufnahme der Galavorstellung in Tel Aviv aus Anlass des 85. Jahrestags des Israel Philharmonic Orchestra. Bei dieser Jubiläumsveranstaltung wurde auch Bronistaw Huberman als Gründer des Palestine Symphony Orchestra geehrt, das nach der Gründung des Staates Israel in „Israel Philharmonic Orchestra“ umbenannt wurde. Das Video zeigt die großartige Erfolgsgeschichte des Orchesters, dessen Leitung in den vergangenen Jahrzehnten Zubin Mehta als Chefdirigent inne hatte und das nun vom israelischen Dirigenten Lahav Shani geleitet wird. Nachdem ich das Video angesehen hatte, erinnerte ich mich an den Abend, an dem ich den Namen Bronistaw Huberman das erste Mal in Verbindung mit dem Schloss Hetzendorf, in dessen Nähe ich wohne, gehört hatte. Es war bei einem Konzert im Wiener Stadttempel, in dem der Geiger Joshua Bell auftrat. Bell werde auf einer Stradivari spielen, die einst dem Geiger Bronistaw Huberman gehört hatte, wurde angekündigt. Ich stand in einer der Logen im ersten Stock des Stadttempels, und hinter mir ein Mann, mit dem ich ins Gespräch kam. Er erzählte mir, dass er an diesen Tagen im Schloß Hetzendorf Szenen für einen Film über Huberman drehen werde, der dort lange Jahre seinen Wohnsitz hatte. Jahre später sah ich einen Dokumentarfilm über Hubermans Leben im Votivkino, ich weiß nicht, ob das der Film war, der damals gedreht wurde, und war tief beeindruckt von der Persönlichkeit dieses Künstlers. Seither stelle ich mir immer wieder vor, wenn ich in der Nähe des Schlosses bin oder an seiner Parkmauer entlang spaziere, dass Huberman hier gelebt und ihm vermutlich an diesem Ort die Idee der Gründung des Orchesters gekommen war, wo er 1926 bis 1936 wohnte. Das Orchester führte im Dezember 1936 unter dem Dirigenten Arturo Toscanini sein erstes Konzert in Tel Aviv auf, in einer Lagerhalle, in die es noch hineintropfte, wie Golda Meir in dem eingangs erwähnten Video sagte. Da ich zu Israel eine starke Beziehung habe, ist diese Verbindung meines unmittelbaren Wohnorts zu Tel-Aviv für mich von einer gewissen sentimentalen Bedeutung. Alles, was nicht Natur ist, sondern von Menschen geschaffen, ist einmal eine Idee im Hirn eines Menschen gewesen. Dieser Gedanke kommt mir oft in den Sinn, und ich bewundere Menschen, die ihre Ideen ernst nehmen und sie trotz aller Widerstände verwirklichen. 58 _ ZWISCHENWELT Huberman war jedenfalls ein solcher Mensch. Es gibt zu seinem Leben Biographien (u.a. Pjotr Szalsza, Bronistaw Huberman, Leben und Leidenschaften eines vergessenen Genies, dt. Übersetzung erschienen im Hollitzer Verlag 2020), Filme und Vieles im Internet. Besonders aufschlussreich ist der Artikel: Bronistaw Huberman Vom Wunderkind zum Kämpfer gegen den Nationalsozialismus. (www. porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/bronist-hubermanvom-wunderkind-zum-kaempfer-gegen-den?page=5body-top) Huberman wurde 1882 in Czestochowa, Russisch-Polen, geboren. Er galt als Wunderkind und trat schon mit 12 Jahren in Wien im Musikverein auf. So begann seine Laufbahn als Geigenvirtuose, die ihn bald zu Tourneen auf der ganzen Welt führte. Anfang der Dreißiger Jahre begann er die unheilvolle Entwicklung zu ahnen, die sich in Deutschland und Österreich anbahnte. Huberman war bis zu Hitlers Machtergreifung in Deutschland kein Befürworter des Zionismus, doch seine Haltung dazu änderte sich, als er sah, wie die Juden in Deutschland nach und nach ihre Rechte und Stellungen verloren und er Palästina besuchte. Er engagierte sich in der Paneuropa-Bewegung, doch diese war zu schwach gegenüber dem aufkommenden Faschismus. In Deutschland wurden nach 1933 jüdische Musiker aus Joram Hess, Lahav Shani und Michael Ludwig bei der Enthüllung der Gedenktafel. Foto: Konrad Holzer