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den Orchestern entlassen, jüdische Solisten konnten nicht mehr auftreten. Huberman klagte in einem offenen Brief die deutschen nichtjüdischen Intellektuellen an, sich durch fehlenden Widerstand an den Verbrechen der Nationalsozialisten mitschuldig zu machen. Ebenso kritisierte er offen Wilhelm Furtwängler, der sich zwar für die jüdischen Musiker der Berliner Philharmoniker gegenüber Goebbels eingesetzt hatte, allerdings nur, weil er befürchtete, die Qualität des Orchesters würde unter deren Verlust zu sehr leiden. Er leistete jedoch sonst keinerlei Widerstand gegen das Regime geleistet. Das war der Nährboden für Hubermans Idee, ein Orchester in Palästina zu gründen, und für dieses die besten jüdischen Musiker aus den für sie bedrohlichen europäischen Ländern zu rekrutieren. Damit verfolgte er mehrere Ziele gleichzeitig. Er würde jüdische Musiker retten, und ein hervorragendes Orchester würden den Menschen in Palästina, das damals kulturell kaum entwickelt war, Gelegenheit geben, sich von ihren schwierigen Lebensbedingungen abzulenken, und Kraft aus der Musik zu schöpfen. Auch wäre es ein Symbol des Widerstands gegen Hitler. Die Idee war schwierig umzusetzen. Er reiste u.a. nach Deutschland, Polen, Ungarn, in die Tschechoslowakei, ließ sich vorspielen, um die Musiker auszuwählen, die seinen Ansprüchen genügten. Er musste viele abweisen, was ihn psychisch sicher belastete. Außerdem musste er die finanziellen Mittel für deren Reise nach Palästina sowie Einwanderungszertifikate, die von den Briten nur in beschränkter Anzahl ausgestellt wurden, beschaffen. Ben-Gurion weigerte sich, die ihm zur Verfügung stehenden Einwanderungszertifikate für Musiker herzugeben, da er Arbeiter, Handwerker und Ingenieure für den Aufbau des Landes bevorzugte. So wandte sich Huberman direkt an die britischen Behörden. Er gab unzählige Benefizikonzerte in den USA, und es gelang ihm, zahlungskräftige Förderer zu finden, und schließlich das Meral Simsek. Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und Exil 2022. Foto: Privat. nötige Kapital zusammenzukriegen. Auch Albert Einstein unterstützte ihn. Dem Eröffnungskonzert im Dezember 1922 in Tel Aviv unter Arturo Toscanini folgten zehn weitere Konzerte und auch Arbeiter-Konzerte mit stark verbilligten Karten, da der Ansturm so groß war und sich viele Menschen die regulären Karten nicht leisten konnten. In den Folgejahren trat Huberman immer wieder mit seinem Orchester auf, auch in europäischen Städten. 1936 hatte er Wien bereits verlassen, war zuerst nach Italien und danach in die Schweiz gezogen. 1946 erkrankte er schwer und starb 1947 in Corsier im Schweizer Kanton Waadt. Durch die Orchestergründung konnten schätzungsweise 600 Menschen vor der Verfolgung und dem Tod gerettet werden. Hubermans Stradivari wurde zweimal gestohlen; das erste Mal in Wien aus dem Hotelzimmer, aber kurz danach wieder aufgefunden; das zweite Mal in New York aus der Garderobe der Carnegie Hall, während er auf einer anderen Geige spielte. Die Geschichte, unter welchen Umständen sie gestohlen wurde und wie sie im Jahre 1985 wieder auftauchte, ist ein spektakulärer Kriminalfall. Jedenfalls wurde siezuletzt von dem amerikanischen Geiger Joshua Bell erworben. Es gibt in Wien unzählige Gedenktafeln an verdienstvolle Persönlichkeiten, ein Hinweis auf Bronisawt Huberman ist mir aber nicht bekannt. Sollte es nicht auch fiir ihn eine Gedenktafel geben? Und — wieso sollte ich nicht versuchen, diese Idee zu verwirklichen. Auch in Hubermans Kopf war das Orchester am Anfang nur eine Idee. Der Gedanke ließ mich nicht los. Ich setzte mich an den Computer und schrieb eine Mail, gerichtet an den Bürgermeister der Stadt Wien, an den Botschafter des Staates Israel, an die Freunde des Vereins des Israel Philharmonic Orchestra in Österreich (fipoaustria) an die IKG und an den Bezirksvorsteher von Meidlung und trug meine Idee vor. Joram Hess, der Vorsitzende von fipoaustria, fand sie ausgezeichnet. Er sagte mir zu, sich für ihre Realisierung einzusetzen und konnte dafür auch die Unterstützung des israelischen Botschafters Mordechai Rodgold gewinnen. Und Joram Hess schaffte es mit bewundernswertem Engagement in kurzer Zeit, die Zustimmung der Stadt Wien zu erreichen. Die Gedenktafel wurde am 6. Mai im Beisein des israelischen Botschafters und von Lahav Shani, dem Leiter des Israel Philharmonic Orchestra und der israelischen Opernsängerin Chen Reiss im Ehrenhof des Schlosses Hetzendorf enthüllt. Mit Meral Simsek zeichnet die Theodor Kramer Gesellschaft bewusst eine inder Türkei politisch verfolgte Autorin kurdischer Herkunft aus, die Türkisch schreibt, um ihr in ihrer Bedrängnis nach Möglichkeit beizustehen und damit auch einem Aufruf des International P.E.N. zu folgen. Verfasserin eines preisgekrönten lyrischen Werks, dessen Übersetzung vorbereitet wird, rebelliert sie im Gedicht Zeile für Zeile gegen die als schicksalhaft ausgegebenen Mächte, die Unterwerfung einfordern, mobilisiert sie die abrahamitische Überlieferung, die griechische Götterwelt und zoroastrische Mythen für ihren Kampf, als Frau und Angehörige einer unterdrückten Nation ein selbständiges Leben zu führen. Es ist eine Dichtung vielfältiger Kenntnisse, die zugleich das Poetische im Alltag und in den großen Dingen der Natur immer von Neuem entdeckt. August 2022 59