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sich mit “failed-states” Theorien befasst und dessen 250 Publikationen in einem Dutzend Länder erschienen sind, auf den Unterschied zwischen 1938 und 2022 ein: 1938 war Österreich eine austrofaschistische Diktatur, als faschistische deutsche Soldaten einmarschierten. 2022 ist die Ukraine eine unabhängige Demokratie, die von einem faschistischen Russland angegriffen wird. Ich kenne die Ukraine einigermaßen. Zwischen Mitte der 90er und 2010 war ich regelmäßig in Kyjiw und Charkiv, lernte unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Ansichten kennen, die unterschiedliche PolitikerInnen unterschiedlich einschätzten, immer auf Russisch, denn ich war zum Russischlernen gekommen, aber auf eines stieß ich nie: Niemand wollte unter russischer Herrschaft leben. Niemand überlegte, in die Russische Föderation auszuwandern. Einige hatten Verwandte in Russland. Aber niemand hatte den Wunsch, in der Pension nach Russland zu gehen. Von niemandem hatte ich je gehört, was während der größten europäischen Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg der österreichische “Medientheoretiker” Peter Weibel, der vor gar nicht so langer Zeit gute Geschäfte in der Russischen Föderation machte, weiß: dass die Menschen, die fliehen, nicht einfach fliehen, sondern dies tun, weil sie “auch aus der korrupten Ukraine” wegrennen, denn “sie könnten ja im Norden und Westen der Ukraine Sicherheit und Schutz finden.” (Der Standard 4.5.2022). Weibel kennt sich aus mit der ukrainischen Korruption, Putin freut das. Meine ehemalige Russischprofessorin, bei ihr wohnen drei vertriebene Frauen aus der Ukraine, sagt: “Diese Menschenverachtung!” Da meint sie Putin, aber Weibel darf sich mitgemeint fühlen. Von ihr erhält die Theodor Kramer Gesellschaft noch in der Nacht nach dem russländischen Überfall den Offenen Brief russischer WissenschaftlerInnen und WissenschaftsjournalistInnen, die schreiben: Es gibt keine Rechtfertigung. Dieser Krieg ist keine Meinung. Das Einstehen für die Ukraine ist keine Meinung. Es geht um: Recht oder Unrecht. Es geht um Parteinahme zugunsten des Rechts, wie es Sophie Scholl formulierte: “Es ist Krieg. Auf welcher Seite stehst Du?” Mit der Parteinahme sind Hilfeleistungen verbunden, andernfalls: leere Worte. Angriffskrieg: Joachim von Ribbentrop wurde dafiir im Niirnberger Prozess verurteilt und gehenkt. Dieser Krieg ist kein normaler Krieg, es ist ein barbarischer, totaler. “Im Krieg ist viel Schreckliches passiert” gilt fiir die, die das Kriegsrecht brechen: Sie wollen Schreckliches passieren lassen. Ein ukrainischer Maler postet ein Foto, Frühsommer 2022: Ein Mann hebt mit zwei starken Armen ein kleines Kind schwungvoll in die Höhe, beide lachen. Der Mann hat kein rechtes Bein, er stützt sich auf eine Krücke. Das Kind hat keine Arme, keine Beine. “Syrien” schreibt der Maler unter das Foto. Es ist ein schönes Foto: Lebensfreude als Widerstand. Es ist ein grauenhaftes Foto: So durfte Russland wüten. So durften sie den Diktator Assad an die Macht zurückbomben. Ich muss an jenen deutschen Kriegsreporter in Lederjacke denken, den ich am liebsten vergessen wollte, so sehr weckt es Anklänge an Euthanasie: Der Reporter besucht mit seinem Sohn ein Krankenhaus in der Ukraine und dort einen Buben, ca. zehn Jahre. Der Sohn hält das Leid nicht aus und geht aus dem Zimmer. Die Mama des Buben: auf der Flucht getötet. Dem Buben fehlt eine Hand. Der Bub: So froh, dass er Besuch bekommt, dass er gesehen wird, er strahlt förmlich. Später sitzt der Reporter in einer deutschsprachigen TVSendestation und sagt: “Das ist doch kein Leben mehr!” Der deutsche Reporter ruft die Ukraine zum Einstellen des Widerstands auf. Februar 2022: Serhij Osatschuk, Vorsitzender der Gebietsverwaltung von Tscherniwzi (Czernowitz), sendet seinen „Appell an Europa“: Frontale Kritik einer Haltung, die sich in Betroffenheit erschöpft. Völkermord: Absicht und Tat Absicht: Reden und Schriften des Präsidenten, russländischer PropagandistInnen, PolitikerInnen, des Patriarchen von Moskau, russisch-orthodoxer Trollfabriken. Absprechen des Existenzrechtes, Aufruf zum Massenmord: “Was man mit der UkPriester, raine tun sollte.” (Timofej Sergejzew) Tat: Vernichtung von Menschen durch Massenmord und von allem, was es zum Leben braucht, gezielte Zerstérung von Kultur- und Bildungseinrichtungen, Deportationen, Kindesraub. Das Bombardieren von Wohnhäusern, Schulen, Theatern, Quellen, von Menschen, die in langen Krankenhäusern, Schlangen um Brot und Wasser anstehen, von Märkten, Bussen, Bahnhöfen, Wasserleitungen, Supermärkten, Apotheken, Kindergärten, Sportplätzen, Stromleitungen, Panzer, die von der Straße aus direkt in Wohnungen schießen, Panzer, die über Autos rollen, darin ganze Familien erschossene Kinder gefolterte, ermordete PolitikerInnen, BiirgermeisterInnen, JournalistInnen und deren ganze Familien Streumunition, Vakuumbomben, Phosphorbomben kleine Kinderkörper, übersät mit Schrapnellwunden das Aushungern und Verdurstenlassen ganzer Städte Die Vernichtung von Lebensmitteln, Ernten, das Inbrandsetzen von Feldern, verarbeitenden Betrieben, Silos und Hafenanlagen, der gezielte Angriff auf BäuerInnen, das Plündern von Getreide Die Anwendung des “double tap”: Zuwarten, bis sich möglichst viele Menschen an einem Ort aufhalten (Warteschlange vor Apotheken oder Trinkwasserlieferungen). Erstes Bombardement. Zuwarten, bis Menschen zur Hilfe eilen. Zweites Bombardement. Oder: Erstes Bombardement. Nach einigen Tagen: Bombardement des Krankenhauses, in dem ÄrztInnen und Krankenschwestern um das Leben der Verletzten kämpfen. Strategie: Bereits angewendet in Syrien. Davor: Terrorstrategie des IS Vergewaltigungen, selbst von Säuglingen, Herumzeigen der mitgefilmten Verbrechen die Deportation von Menschen, das Einsperren in Filtrationslager, allein im Juni 18 beiderseits der Grenze nachgewiesen: Schulen, Sporthallen, Kulturzentren zu Lagern umfunktioniert das Verschwindenlassen von Menschen totale Informationsblockade in den besetzten Gebieten die “Erméglichung” der Adoption von ukrainischen Kindern in der Russländischen Föderation, auch wenn sie noch Eltern August 2022 65