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sen”, sagte Wolodymyr Selenskyj in seiner Ansprache am 19. Februar 2022 bei der 58. Münchner Sicherheitskonferenz. Zwei Tage zuvor schlug eine Granate im Schulhof des Vrubivka-Lyzeums in Popasna ein und wurde der Kindergarten “Skaska” in Stanyzia-Luhanska bombardiert. Die Kindergartenpädagoginnen posten ein Foto und schreiben dazu: “Nur ganz kurz danach wären Kinder im Garten gewesen. Nicht auszudenken.” Das Dorf Stanyzia-Luhanska liegt knapp hinter der Grenze zur “Volksrepublik” Luhansk. Von russischer Seite heißt es: Die ukrainische Regierung habe Kindergarten und Schule bombardiert. Die deutschrussische 28jährige Propagandistin Alina Lipp, deren Vater 2017 oder 2018 von Deutschland (schlechtes Wetter! Flüchtlinge! Wirtschaftskrise! gibt er in einem Video an) auf die Krim gezogen ist, die sich als Journalistin ausgibt und das Bild einer deutschen russophoben Diktatur zeichnet, behauptet, ein ukrainischer Bagger habe das Loch im Kindergarten verursacht und unterlegt dies mit einer Manipulation. Die ukrainische Faktenchecker-Seite stopfake liefert noch am 17. Februar die Tatsachen: https://www.stopfake.org/de/fake-ukrainische-armee-be-schiesst-kindergarten/ Alina Lipps Fake-Video auf Telegram wird am 21. Februar vom österreichischen “Wochenblick” mit der Behauptung, der amerikanische übernommen, angereichert Außenminister habe bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates ein Foto des Kindergartens in die Kamera gehalten. Die AFP entlarvt dieses Blinken-Foto als Fälschung: Kindergartenfoto und Blinken-Gesicht sind über das von Colin Powell von 2003 gelegt worden. Die Follower von Alinas Lipp TelegramKanal stiegen — man könnte auch sagen: eskalierten — von knapp zweitausend kurz vor dem Krieg auf über Hunderttausend bis Anfang April. Das Budapester Memorandum wurde in der Zeit unterzeichnet, als ich das erste Mal in der Ukraine war: Die Ukraine, damals drittgrößte Atommacht der Welt, verzichtete auf ihre Atomwaffen nach Zusicherung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine durch die Russländische Föderation, Großbritannien und die USA, Frankreich sagte Garantien in einem eigenen Schreiben zu. 1994. “Unsinn” sagt Michail Chodorkowski zum Argument, dass die NATO durch eine Flugverbotszone Kriegspartei werden würde, dieses Argument, das immer kommt, selbst bei den Vorschlägen einer teilweisen Flugverbotszone über humanitären Korridoren, über Atomkraftwerke, über Kulturgütern, oder über Belorus — einem offiziell neutralen Land, von dem aus die russlandische Armee die Ukraine bombardiert. Die belorussische Opposition konnte im Februar und März russländische Truppenbewegungen in die Ukraine sabotieren, jetzt droht den Partisanen die Todesstrafe. Die Forderung nach einer Flugverbotszone wird von russischen und belorussischen Oppositionellen und zahlreichen Osteuropa-ExpertInnen unterstützt. Auch der ehemals in der Türkei inhaftierte Schriftsteller Deniz Yücel setzt sich für eine Diskussion dieser Forderung ein, deren VerfechterInnen allesamt gleichzeitig sofortige härtere Strafmaßnahmen inklusive eines Embargo oder der Verhängung von Strafzöllen auf russländische fossile Energieträger fordern. Chodorkowski fordert sie mit aller Dringlichkeit. Er ist der russische Oppositionelle, der zehn Jahre im Straflager überlebte. Er riskiert auch im Exil sein Leben: Wenn der Befehl von oben kommt, sagt er, gibt es keinen Schutz. Putin ist ein Mafioso, ein Bandit, man muss mit Stärke antworten, er nimmt sich sonst Stück für Stück, lacht dazu. Militärexperte Gustav Gressel entlarvt die Atombombendrohung als “Hirngespinst”: Nichts würde Putin damit gewinnen, Umbringen kann er auch konventionell, Mariupol: ausgelöscht. Er braucht keinen Atombombeneinsatz. Die nukleare Drohung dient der psychologischen Kriegsführung und jeder, der in diese “Eskalations”-Rhetorik einsteigt, erledigt Putins Geschäft. Dritte Märzwoche: Der griechische Konsul Manolis Androulakis verlässt als letzter EU-Diplomat Mariupol, vergleicht die Hölle von Mariupol mit Guernica, Coventry, Grosny, Aleppo, Leningrad. Die griechische Minderheit in der Ukraine, zirka 150 000 Menschen vor dem Angriffskrieg, lebte großteils in und um Mariupol. Der aus Österreich stammende und nach Frankreich geflüchtete jüdische Widerstandskämpfer Herbert Traube schreibt mir im März 2022 zu Mariupol: Schrecklich. Schlimmer als im Zweiten Weltkrieg. Der ukrainische Präsident sagt im April 2022: Wir hätten Mariupol retten können, hätten wir die notwendigen Waffen erhalten. Nach der Bombardierung der englischen Stadt Coventry sprachen die Nazis von „coventrieren“: „Der Zynismus des Wortes bestehe darin, gleichzeitig dem britischen Feind mit völliger Vernichtung zu drohen und ihm die Schuld dafür zu geben“, berichtet Deutschlandfunk über die Abhandlung „Lingua Tertii Imperii“ von Victor Klemperer zur Sprache des Dritten Reiches. Die Nazis drohten England, „es würde coventriert werden, wenn es sich nicht endlich besiegt gebe.“ Gauthier Rybinski, der Kommentator für internationale Politik auf France 24, wundert sich und wundert sich: Dass man Putin noch immer rhetorisch das Schlachtfeld überlässt, dass man ihn Angst verbreiten lässt, dass man noch immer keine koordinierte Strategie gegen die russländische Propaganda hat, die wie die Mafia über Angst erpresst. Juli 2022: Die Ukraine bestellt den türkischen Botschafter ein. Obwohl der Türkei Beweise vorgelegt wurden, dass ein Frachter gestohlenes Getreide aus der Ukraine mitführe, hoben die türkischen Behörden die Beschlagnahmung des Frachters auf. Der türkische Präsident wirft sich in die Vermittlerpose mit Russland zur Lösung der “Lebensmittelkrise”. In Wahrheit: Es besteht jeder Grund zur Sorge, dass iiber die Türkei Diebesgut weißgewaschen werden soll. Nur wenige Wochen später wird Erdogan ankündigen, die KurdInnen aus der Autonomieregion Rojava zu vertreiben und eine Million syrischer Flüchtlinge in das Gebiet zu verbringen. (taz, 30.7.2022) Ich habe einen unstillbaren Wunsch, investigative JournalistInnen möge es gelingen, Geldströme aus dem Kreml an europäische Friedenstauben nachweisen zu können. Ein naiver Wunsch. Der österreichische Journalist Stefan Schocher meint zu meiner Suche nach den Gründen des ideologischen Wegschauens, Distanzierens, Sich-den-Krieg-vom-Leibe-Haltens: „Ich glaube im Lager jener, die immer an Russland als antifaschistisches, antiimperialistisches Bollwerk geglaubt haben, brauchst gar keine großen Geldflüsse, sondern nur immer wieder einen kleinen Hinweis auf die böse NATO.“ Und selbst wenn: Würden Nachweise von Verbindungen überhaupt etwas am Wirken von “Putins nützliche Idioten”, wie Georg Witte am 4. Juli 2022 schrieb, ändern? Oder würde es nur dazu führen, dass als neues August 2022 67