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mit der Zeit wurde das immer schwerer. Es gab keine anderen Informationen. Gelang uns Kontakt zu den ukrainischen Streitkräften, fragten wir: Besteht die Ukraine noch? Ein Überlebender berichtet von den Folterungen in Betonrohren: Hände gefesselt, in die Knie geschossen, in den Bauch geschossen, dann erst in den Kopf: Maximales Leiden. Neben ihm ein Mann, der anderthalb Stunden gefoltert wird. Der Überlebende betete: Man möge den Mann neben ihm schneller töten. Eine Frau rennt nach dem Bombardement durch ihre Wohnung auf der Suche nach ihrer Tochter. Sie findet sie ohne Kopf. Ukrainisches Mädchen, Österreich, ihre Schulfreundin auf der Flucht mit der Familie im Auto beschossen. Alle tot. Über 30 JournalistInnen sind seit dem russländischen Überfall getötet oder gezielt ermordet worden. Charkiv, 5.3.2022: «Die ganze Nacht über hat ein junges Mädchen ihre Mutter wach gehalten. Sie setzte sich weinend auf und schrie: „Mama, ich habe Angst, bitte rette mich, rette mich jetzt.“ Sie beruhigte sich erst am Morgen, nachdem ihre Mutter sie die ganze Nacht gehalten hatte.” — eine Frau aus Saltivka, die ihre Nacht in einem Luftschutzbunker beschreibt. (BBC) https://war.ukraine.ua/de/crimes/toete-siealle-wie-russland-charkiw-die-zweitgroesste-stadt-der-ukraine-zerstoert/ Ansprache des ukrainischen Präsidenten im albanischen Parlament, noch im Winter: Selenskyj erzählt, wie Männern Wasser in die Schuhe geschüttet wird, dann werden sie gezwungen, im Freien zu liegen — bis ihnen die Zehen abfrieren. Die Abgeordneten im Parlament reagieren anders als Karl Nehammer: Man sieht es ihnen an. So, wie man es Andrzej Duda, Mateusz Morawiecki, Janez Jansa, Boris Johnson, Ursula von der Leyen, Charles Michel, Roberta Metsola, Antony Blinken, Joe und Jill Biden, John Kirby, Dalia Grybauskaite, Kaja Kallas, Arturs Karin§, Mario Draghi, Zuzana Caputova, Ewa Ernst-Dziedzic ansieht. Man hat es in Osteuropa nicht vergessen, wenn Freiheit und Menschenrechte mit zweierlei Maß gemessen werden. Ausbildung von Anastasia, junge Ukrainerin, im Kosovo, Frühjahr 2022: Zum Minenräumen. Freiwillige. Die Tage vergehen, die nächsten Berichte: Frau und Tochter, beide als Sexsklavin verschleppt, beiden die Hände gebrochen, damit sie nicht fliehen können. Fünf Männer, die zu einem Bauernhof aufbrechen, die Tiere füttern: Einer kommt zurück. Kira, 6 Monate, ein Babylächeln wie unsere Tochter: Ihr Vater ging einkaufen, als er zurückkam, war die Wohnung in Odessa getroffen, Frau und Baby tot. Er sagt, er arbeitet weiter als Bäcker in Odessa. Nur, wenn er alleine ist, drohen Schmerz und Einsamkeit ihn umzubringen. Dorfbewohner sehen verkohlte Schädel in einem Schacht. Sie vermuten zwei vermisste Erwachsene. Sie finden einen dritten: einen kleinen. Wovon reden die Intellektuellen und FeministInnen, wenn sie Gebietsabtretungen von der Ukraine fordern? “Rückkehr zur Verhandlungsbereitschaft”? “der Westen miisse alles tun, um weiteres Leid zu verhindern”? Und mit Putin reden! Neuerdings, Sommer 2022, gefordert von: Pamela Rendi-Wagner, SPÖ-Vorsitzende. Worüber will sie mit Putin reden? Wovon reden die? Jemand aus der Ukraine schrieb: Ja: Kommt, erklärt Euch bereit, in den besetzten Gebieten zu leben: Dann reden wir weiter. Stefan Schocher berichtet über das besetzte Cherson: Polizeistaat, abgeriegelte Orte. Welches Grauen erwartet die BefreierInnen? Eine Frau in Cherson muss sich ausziehen und den ganzen Tag nackt stehen: Sie hatte sich geweigert, den russländischen Soldaten zu bestätigen, wie großartig sie sind. Eine Frau aus Mariupol, ihre Französischlehrerin durch russländisches Bombardement ermordet, wird ins Filtrationslager verschleppt: Ihre “La vie est belle” Tätowierung wird als deutschsprachige Naziparole interpretiert. Aufder Titelseite der ersten Ausgabe des feministischen deutschen Magazins EMMA nach dem russländischen Angriffskrieg — jener Ausgabe, die parallel zum Offenen Brief gegen Waffenlieferungen gestaltet wurde — prangt: Marianna Vyshemirsky, jene schöne Frau, die durch das russländische Bombardement auf die Geburtsklinik von Mariupol am 9.3.2022 leicht verletzt wurde und verstört in die Kamera blickt; jene Bloggerin, von der die russländische Propaganda behauptete, sie sei die Schauspielerin, die die andere Hochschwangere spielte: Die Frau, deren Bauch aufgerissen wurde, deren Baby zuerst starb, die die Ärzte anflehte: Mein Baby! Tötet mich! Und die starb. Und dann verbreitete die russländische Propaganda: “Tote Frau bringt Baby zur Welt.” Denn Marianna Vyshemirsky hatte aus Mariupol flüchten können, hatte ihr Kind zur Welt bringen können. Als sie viel später in ihre sozialen Netzwerke schaute, waren die übergegangen vor Hassreden: Man werde sie umbringen, ihr Kind zerstückeln, sie elende Lügnerin, usw usf. Hat Marianna Vyshemirsky irgendjemand von EMMA gefragt, ob sie SO EINE Ausgabe zieren will, in der sich Folgendes findet: Schwarzers und Welzers Plädoyer für “Verhandlungen”, KEINE EINZIGE ukrainische Stimme des Widerstands, keine Verteidigerin, keine Soldatin, kein Hinweis auf den hohen Frauenanteil der ukrainischen Armee, keine FEMEN, KEINE EINZIGE Stimme des Widerstands aus der Russländischen Föderation, keine Beschreibung russländischer Straf- und Fiiltrationslager, keine PUSSY RIOT, dafür: Eine Doppelseite mit Fotos, flüchtende Frauen, männliche Soldaten, Selenskyj in “Siegerpose”, Gleichsetzung von “töten” und “töten”, gleich von welcher Seite, durch den deutschen Soziologen und Sozialpsychologen Harald Welzer, der dem ukrainischen Botschafter bescheinigte: Deutschland habe eine besondere Kriegserfahrung. Und daraus den Schluss zieht: Schluss mit Widerstand. Später im Frühjahr wird Marianna Vyshemirsky in der Ukraine ein Interview geben: Mit Hilfe eines prorussischen Bloggers. Denn: Sie und ihr Mann hatten flüchten können, aber dort, wo sie waren, war russländisch kontrolliertes Gebiet im Donbas. In der dem Angriffskrieg folgenden zweiten Ausgabe der EMMA: Ein Pazifist aus der Ukraine. Einige Zeit später: Derselbe ganzseitig in der Wiener Zeitung: „Mehr Waffen bedeuten mehr Blutvergießen. Jurij Scheljaschenko von der Ukrainischen Friedensbewegung über gewaltfreien Widerstand, kollektive Sicherheit und warum er Sanktionen gegen Russland skeptisch sieht.“ (17.06.2022). von Robert Sommer aufgegriffen. Scheljaschenko reichert die übliche Gleichsetzung von Angreifer und Verteidiger mit Inzwischen auch der Lüge an, in der Ukraine fänden „Massenerschießungen von Kriegsgefangenen“ statt, er fordert gewaltlosen Widerstand und erinnert an die Friedensbewegung gegen den Vietnam-Krieg. Forderten daAugust 2022 69