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rung von uns als Nation.” Sie lebt jetzt bei ihrem Vater, der ursprünglich aus Russland stammt. Auf die Frage, was sie dazu sagt, dass Butscha als Fake bezeichnet wird, sagt sie gequält: “Ich weiß nicht, warum muss ich jemandem beweisen, dass mein Mann tot ist? Und dass Russen ihn getötet haben? Mehr als ein Monat ist vergangen und es ist immer noch Blut auf dem Asphalt. Wie viel Blut muss das gewesen sein? Ist das Fake? Gefolterte Menschen, zerstörte Häuser, ist das Fake? Ich weiß nicht, was ich sagen soll.” Da sagt jemand in einer Diskussion — auch er einer, der nie in der Ukraine war: “Es ist ein Bürgerkrieg”. In der Tat: Das sagt auch die russländische Propaganda, nämlich am 19. Juni 2022, Talkshow, Russländische Föderation: In der Ukraine gäbe es längst keine Spezialoperation mehr, stattdessen tobe ein Bürgerkrieg, sagte die Chefredakteurin des russischen Senders RT, Margarita Simonyan. Wie sie dies genauer erklärt, wird am 21. Juni in der Frankfurter Rundschau zitiert: „Ein Teil der Ukrainer, die russenfeindlich und antirussisch sind, so wie die Faschisten antisemitisch waren — also absolut gleich —, zerstört einen anderen Teil seines eigenen Volkes“, der Kreml unterstütze „lediglich eine Seite dieser Kriegsparteien.” “Das sind unsere Leute. Und da drüben sind die Antirussen. Das ist alles.“ Es sei legitim widerständige Menschen in der Ukraine zu töten, schließlich bestehe der Existenzanspruch der Ukraine nur aus Lügen. Wer nicht unter russländischer Herrschaft leben will: antirussisch. Antirussisch ist: antisemitisch gleich wie Faschisten. Wer Widerständige mordet: setzt Recht um. Dass die Ukraine ein Recht hat zu existieren: Lüge. Daher ist es ein: Bürgerkrieg. Die Russländische Föderation: hilft bloß einer der beiden “Konfliktparteien”. Putin, so der Moskauer Soziologe Grigori Judin, sei kein Populist, ihn so zu bezeichnen, ein grobes Missverständnis. Es ging ihm nicht um die Mobilisierung der Massen — das könnte sich jetzt ändern, denn der Angriff auf die Ukraine berge eine latente Bürgerkriegsgefahr in der Russländischen Föderation, der Staat sei an der Grenze zum Totalitarismus (Interview auf deköder unmittelbar nach Beginn des Angriffsskriegs). Putin, so Judin, trieb die Entpolitisierung voran, die Trivialisie76 ZWISCHENWELT rung, schloss sozusagen einen Deal mit der Bevölkerung: Du willst keine Probleme? Dann bleib in Deinem privaten Leben! Als Fundament der Atomisierung nennt Judin die Sozialtechnologie: Die Möglickeit, Fragen zu stellen, wird auf Durchführungsfragen begrenzt. Das Denken eingekreist. Außerhalb dieser Einkreisung: “Wozu?” und “Warum?”, die nicht gestellt, nicht gedacht werden. Judin sagt: Die Parallelen zu Hitlerdeutschland der 30er sind nicht zu übersehen, “jeder, der sich mit Deutschland beschäftigt hat, sieht das.” 8. Mai 2014, der russländische Landraub der Krim liegt zwei Monate zurück: Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko am Tag der Kapitulation von Nazideutschland in Berlin, der Redner vor ihr: Deutschlands Außenminister und heutiger Präsident Frank-Walter Steinmeier, der sich heute über die Ukraine nicht genug kränken kann, — er sollte zu einem der Architekten von Nord Stream 2 werden, das unter deutscher und französischer Führung ausgehandelte Minsker Abkommen mit der Russländischen Föderation und der Ukraine wird eher einer Strategie zur Vermeidung von Waffenhilfe gleichkommen (Lukaschenko als Gastgeber grinst breit ins Foto) — kaum unterschrieben, brach die russländische Armee den Waffenstillstand und tötete. Ohne Konsequenzen. Das alles wird erst kommen. Aber Oksana Sabuschko weiß auch an diesem 8. Mai 2014 schon genug über Putin und der — so scheint es — unaufhörlichen Festigung und Ausweitung eines terroristischen Mafiastaates. Sie vergleicht bei ihrer Rede in Berlin Putin mit Hitler. Man dreht ihr das Mikrofon ab. Nur einer verteidigt sie: Der litauische Philosoph Leonidas Donskis. Wenn Judin mit der Moskauer Metro fahrt, kommen Menschen zu ihm und sagen: “Danke.” Danken fiir das, was er sagt, aber, so sagt Judin: Jeder fiir sich. Jeder allein. So, wie es das daneben gegangene Deserteursdenkmal in Wien suggeriert: All ALONE. (daneben eine Tafel mit dem Mythos vom Opfermythos) Timothy Snyder sagt: Die postsowjetischen osteuropäischen Länder, die jetzt der Ukraine Hilfe leisten, wissen, dass Widerstand alleine nicht möglich ist. Die Literatur-- und Kulturwissenschafterin Magdalena Baran-Szoltys sagt im Gespräch mit Benedikt Weingartner am 7.8.2022 in Europa:Dialog auf OKTO: Das wichtigste Datum für die osteuropäischen und baltischen Länder ist nicht 1989, sondern 1991: Mit der Erreichung der Unabhängigkeit. Nach der Auflösung der Sowjetunion. “Es mus seinen Grund haben, wenn die elementaren Reflexe, in diesem Fall: die Solidarität mit den Angegriffenen, nicht funktionieren”, schrieb Karl Schlögel 2015 in Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen (S. 70). Schlögel studierte in Berlin, Moskau und Sankt Petersburg Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik. Nach der Annexion der Krim entschloss sich Schlögel, all seine Pläne über den Haufen zu werfen und ein Buch über die Ukraine zu schreiben und dies “nicht deshalb, weil ich mich für besonders kompetent hielte, sondern eher im Gegenteil: Ich musste feststellen, dass man sich ein Leben lang mit dem östlichen Europa, mit Russland und der Sowjetunion beschäftigt haben konnte, ohne eine genauere Kenntnis von der Ukraine besitzen zu müssen — und ich war nicht der einzige im Fach, der zu dieser Einsicht kam. Erst recht gilt dies für das allgemeine Publikum. Im medialen Dauergespräch ging es fast ausschließlich um Putins Russland, das zudem nicht als politisches Subjekt, als Akteur verstanden wurde, sondern als Opfer ... (S. 9 und 10). Rückblende 2014: Ein Freund, 2014, schockiert über den Abschuss des malaysischen Passagierflugzeugs über den “Separatistengebieten”: Beinahe wären Freundin oder Schwester im Flugzeug gesessen. Erst im Februar 2022 las ich bei Snyder: Die russländische Propaganda gab zum Abschuss des Passagierflugzeuges die Parolen aus: Die Ukrainer hätten das Flugzeug abgeschossen. Das Flugzeug sei von sich aus explodiert. Der CNN habe die Leichen ins Flugzeug verladen und diese über den Separatistengebieten abgeworfen. Diese widersprüchlichen Versionen, von denen man sich eine aussuchen darf, haben einen Effekt: Die realen 298 Menschen, darunter 80 Kinder, die in einem jähen Schrecken zu Tode kamen, deren Körper weit über die Landschaft verstreut wurden, verschwinden aus dem Blick. Postmoderne Relativierung von Wahrheit