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Die Ablehnung der Idee, “dass es so etwas wie Wahrheit gibt”, schafft Wahrheit ab, sagte Snyder in seinem Vortrag “Von der Propaganda zur Wirklichkeit” am 9.11.2014 in Chicago. Er analysiert die postmoderne Relativierung von Wahrheit als das Fundament der russländischen Propaganda: “Wenn Sie nicht daran glauben, gibt es sie nicht mehr.” Es gehe dabei nicht in erster Linie darum, dass die Zielgruppe — vor allem die europäische und amerikanische Linke — der Darstellung des Aggressors glaube. Es genüge, Zweifel über das Geschehen zu säen, Tatsachen in Frage zu stellen. Wer keine Wahrheit mehr kennt, kann nicht zwischen Recht und Unrecht unterscheiden: Diese Urteilsfähigkeit beruht auf der Erkenntnis, dass die Wahrheit nicht immer irgendwo dazwischen liegt. Die Darstellung des Krieges als “geostrategischer Konflikt” hat Dreierlei zum Ziel: Schüren der Ressentiments gegen Amerika, Verniedlichung eines Krieges als kleiner Konflikt in einem fernen Land, ausgetragen von Männern in Krawatten: Die Menschen, die es wirklich betrifft, verschwinden im Nebel. Snyder fragte das Publikum: Was von all dem haben Sie bereits gehört? Die Ukraine ist keine Nation. / Die ukrainische Nation ist repressiv. / Die ukrainische Sprache existiert nicht. / Die russische Minderheit wird gezwungen, Ukrainisch zu reden. “Ist Ihnen aufgefallen, dass dies eine Aneinanderhäufung von Widersprüchen ist?” Metamorphose der Grünen Männchen zu Separatisten ohne Anführungszeichen Kontinuierlich über die Grenze aus der Russländischen Föderation in die Ukraine eingesickert: Putins Antwort auf die dritte erfolgreiche demokratische Erhebung der Ukraine, den Euromaidan von 2013/2014. Die UkrainerInnen nannten sie “Grüne Männchen”, weil Putin nichts von Soldaten wissen wollte, die aus Russland ohne Hoheitsabzeichen in der Ukraine Regierungsgebäude besetzen und ukrainische SoldatInnen töten. Dann müssen es wohl Außerirdische sein, sagen UkrainerInnen. Die einheimischen ReichsbürgerInnen, die esin jedem Land gibt, hätten niemals eine “Volksrepublik” besetzen oder gar halten können. In Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, überwiegend russischsprachig, besetzten die “Separatisten” versehentlich die Oper, ein schönes Gebäude, das sie für den Regierungssitz hielten. In neun Verwaltungsbezirken inszenierte die Russländische Föderation einen Coup d’Etat. In zweien gelang er. 2022: Anhörung des Untersuchungsausschusses über die Erstürmung des Kapitols unter Trump, gefördert von Putins Trollfabriken. Ende Juni 2022: Bei der Wiener Polizei erläutern prorussische Aktivisten den russländischen Krieg gegen die Ukraine. Die WKO zog im Frühling ein Plakat mit ähnlichem Hintergrund nach Protesten der ukrainischen Gemeinde stillschweigend zurück: Die Recherche war zu detailreich, als dass die WKO nicht reagieren hätte können. Allerdings: Entschuldigung, Erklärung, Aufarbeitung? Im Falter-Radio wird ein Untersuchungsausschuss zu den Verbindungen Österreichs zu Russland gefordert. (Die Macht der prorussischen Lobbys 23.6.2022.) Amnesty International, das zur Untersuchung des russländischen Völkermordes in die Ukraine reiste, publiziert Anfang August einen Bericht, in dem die ukrainische Armee kritisiert wird: Sie bringe ZivilistInnen in Gefahr. Die Leiterin des ai-Büros in der Ukraine tritt aus Protest zurück und von ai aus. Die internationale Leiterin von ai rechtfertigt sich folgendermaßen: Man habe den Bericht am 29. Juli ans ukrainische Verteidigungsministerium mit der Aufforderung zur Stellungnahme gesendet, mit Angabe des Publikationstermins 4. August, aber keine Stellungnahme erhalten! Wovon zeugt eine derart extrem kurze Frist? Die Aufforderung zur Stellungnahme eine Finte? Halb nur bin ich verwundert. Und die Enttäuschung, die mich überkommt, fühlt sich alt an. Denn ai betrachtet auch die Lage Israels von der Warte einer externen Evaluierung unter Außerachtlassung des Kontextes, als handle es sich um ein Fußballspiel, wo der eine die rote und der andere die gelbe Karte in die Hand gedrückt bekommt, und ai hatte keine Hemmungen, den Protest der Frauen an der Basis buchstäblich physisch außen vor zu lassen, als es sich im Namen der “Rechte der SexarbeiterInnen” mit Freiern und ZuhälterInnen verbrüderte und das Nordische Modell zur Abolition der Prostitution diffamierte. Damals entstand die inzwischen berühmt gewordene Persiflage des Amnesty International Logos mit einem Penis. Nun enthält der Bericht von ai ausgerechnet jene Begründung, mit der die Russländische Föderation ihr Bombardement von Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern, Kirchen, Museen, Bahnhöfen, Supermärkten, Flüchtlingskonvois rechtfertigt und dreht die Chronologie um: Der Widerstand, die Verteidigung, wird zum Problem erklärt. Ich trete endgültig von ai aus. Die russländische Propaganda setzt den ai-Bericht gekonnt ein, auch in der Ukraine. Von zwei nach Österreich geflohenen Ukrainerinnen, die dieser Propaganda Glauben schenken, wird mir gesagt: ai habe Recht. Sie wollen, dass es die Ukraine wie Österreich mache — Anschluss! So habe sich Osterreich Zerstérungen erspart. 9. Juli 2022: Prazedenzfall in der Russischen Féderation nach dem im Zuge des Angriffskrieges erlassenen Gesetzes gegen “Falschinformationen”: Ein Kommunalpolitiker in Moskau, Alexej Gorinow hatte sich am 15. März in einer Sitzung gegen einen “Plan für Freizeitarbeit” im zentralen Krasnoselskij-Stadtbezirk ausgesprochen. Die Rede des 60-Jährigen ist auf Youtube anzusehen. “Von was für einem Wettbewerb für Kinderzeichnungen zum Tag des Kinderschutzes kann die Rede sein, von was für einer Organisation von Tanzprogrammen zum Tag des Sieges [...] Zur Information sage ich, dass rund hundert Kinder in der Ukraine gestorben sind und Kinder Waisen werden. Die Enkel und Urenkel der Teilnehmer am Zweiten Weltkrieg werden jetzt in das Inferno der Kampfhandlungen auf dem Gebiet der Ukraine geworfen. Ich denke, dass alle Bemühungen der Zivilgesellschaft einzig darauf gerichtet sein müssen, den Krieg zu beenden und die Truppen Russlands von dem Gebiet der Ukraine abzuziehen.” Die Bezirksvorsteherin Jelena Kotjonotschkina hatte Gorinow zugestimmt und Russland einen “faschistischen Staat” genannt. Gegen beide wurde ein Strafverfahren eingeleitet, Kotjonotschkina floh aus Russland, Gorinow wurde seit dem 27. April im Untersuchungsgefängnis “Matrosenruhe” festgehalten. Eine Zeugin sagte aus: Sie sei selbst bei der Sitzung gewesen und habe sich geärgert, dass Kinder um ein Fest gebracht werden sollten, berichtet das von den Pussy Riot-Sängerinnen Maria Alyochina und Nadeschda Tolokonnikova gegründete Medienunternehmen Mediazona. Zona steht im Slang für Haft. Alyochina und Tolokonnikova hatten Mediazona nach zwei Jahren Straflager geAugust 2022 77