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gründet, zu dem sie nach ihrem Protestsong “Heilige Jungfrau, befreie uns von Putin” in der Christus-Erlöser Kathedrale verurteilt wurden; sie gründeten außerdem eine Hilfsorganisation für zum Straflager Verurteilte. Nawalny nannte sein Straflager “freundliches Konzentrationslager”: Man wird nicht direkt umgebracht, aber soll mit allen Mitteln zur Kollaboration gebrochen werden. Auf deköder sind Berichte von solcher Grausamkeit zu lesen, dass man nicht weiterlesen will. Gorinow ist zu sieben Jahren Straflager verurteilt worden. (Frankfurter Allgemeine, 9.7.2022). Dieses Urteil kann ein Todesurteil sein. Unterstützerlnnen von Putin sprechen das Wort Demokratie so aus: dermokratia, was buchstäblich “shit-o-cracy” bedeutet. 2021 ist jeder Vergleich von Hitler und Stalin oder Nazi-Deutschland und Sowjetunion verboten worden, es soll der Hitler-StalinPakt vergessen werden, schreibt Tomasz Kamusella im Beitrag “Putin’s Fascism”, New Eastern Europe, Ihe Pain of War, Testimonies of aggression and resistance, April/Mai Nr. 3/2022, S. 88 und S. 89. Es muss um 2006 herum gewesen sein, als ich bei dem Ubersetzerehepaar Alexander und Nina in Kyjiw war — damals wusste ich noch gar nicht, wie man Kiew auf Ukrainisch schreibt — und eine Biographie iiber Putin erstanden hatte. Da war er: Mit Frau. Mit Kind. Im Ruderboot in Sibirien. Beim Boxen. Mit nacktem Oberkérper. Am Pferd. Ich wollte von Alexander, einem hochpolitischen, vielsprachigen, weitgereisten Menschen, sein Vater war dem Mord an den “Kulaken” entkommen, indem er “freiwillig” seinen Bauernhof verkaufte, wissen, was er von Putin halt. “Er ist ein KGB-Mann.” Keine weiteren Erklärungen. Dabei war Alexander sonst nicht verlegen, lange historische Vorträge zu halten, er hatte ein unglaubliches Gedächtnis. Ich bohrte nach. Er wiederholte: “Er ist ein KGB-Mann.” Gennadi, der Professor, der in Charkiv an der Uni Deutsch unterrichtete und unsere Gruppe von Studierenden während des Sommerkollegs Österreich-Ukraine 2000 in Russisch, brachte uns bei, was Schwarzerde auf Russisch heißt und ließ einen Bericht über die Kursk einfließen. Der Russischen Föderation wurde nach dem Unfall Hilfe vom Ausland angeboten, Putin war im Urlaub, lehnte ab, blieb im Urlaub, 118 tote Matrosen. 78 ZWISCHENWELT Catherin Belton beschreibt in “Putins Netz” (Originalausgabe 2020 unter dem Titel “Putin’s People”, William Collins, der Verlag wurde von Roman Abramowitsch verklagt) Putins Reaktion, als nach dem Tod aller Matrosen der Kursk im August 2000 noch unabhängige Medien begannen, kritische Fragen zu stellen. “Besonders hart ging Beresowskis Sender ORT mit ihm ins Gericht, der Interviews mit trauernden Verwandten ausstrahlte [...]. Putin tobte und behauptete, dass es sich bei den Frauen, die in den Ausschnitten zu sehen waren, laut einem Bericht seiner Sicherheitsberater nicht um Ehefrauen oder Verwandte der Matrosen handelte, sondern um Prostituierte, die Beresowski bezahlt hätte, um ihn in Verruf zu bringen.” Und dann gab Putin den Medienmonguln die Schuld. “Es gibt heute Personen beim Fernsehen, die (...) in den letzten zehn Jahren die Armee und die Flotte zerstört haben, wodurch jetzt Menschen sterben. (..) Sie haben Geld gestohlen, die Medien gekauft und manipulieren jetzt die öffentliche Meinung.” (S. 255). Juli 2022: Die ukrainische Abgeordnete Lesia Vasylenko berichtet von ihren Gesprächen mit ihren tschechischen KollegInnen — Tschechien hat nun die EURatspräsidentschaft übernommen — die größten Sorgen seien Destabilisierung durch russländische AgentInnen und ProvokateurInnen, von Verbrechen, die UkrainerInnen angelastet werden sollen, bishin zu strategischer Unterwanderung. Tschechien sei ein starker Verbündeter, war unter den ersten Ländern, die Waffen lieferten, man sei zuversichtlich, gemeinsam dem Sieg näherzukommen. NGOs sind Einfallstore für Propaganda, sie wirken, da “moralisch vertrauenswürdig” als Brandbeschleuniger. Jene, deren Propagandawerkzeuge “Islamophobie” und “Russophobie” sind, wissen das. Putin ist ein eifriger Schüler. Frühjahr 2022: In Euskirchen bei Köln sei ein Jugendlicher verprügelt worden, weil er Russisch sprach, und im Krankenhaus an seinen Verletzungen gestorben: Fake. Ein Mann randaliere in einem Regensburger Supermarkt, weil dort russische Waren verkauft werden: Das Video zeigt einen Vorfall aus dem Jahr 2019 in Russland. (https://correctiv.org) Gegen die Propagandistin Alina Lipp wird wegen Kriegspropaganda ermittelt (t-online, 16.6.2022). Lipp ist jene sich als kritische alternative Journalistin ausgebende Deutsch-Russin, die schreibt: Deutschland erinnere sie an ein Konzentrationslager, weil Ungeimpfte keine Geschäfte betreten oder Schuhe kaufen könnten, “massenhaft” würden die Menschen Deutschland verlassen, Deutschland habe nach dem Zweiten Weltkrieg keine Verfassung bekommen, es gäbe keinen Friedensvertrag mit den ehemaligen Kriegsparteien, Demonstrationen seien verboten, die deutsche Politik mache das, was die USA wolle. Sie war zu Gast bei RIA FAN, einer angeblichen Nachrichtenagentur, Teil einer russländischen Trollfabrik, hat Kontakt zum Verein Druschba, der seit 2016 “Friedensfahrten” nach Russland organisiert. Mitglieder des Vereins posieren auf der Krim mit der paramilitärischen faschistischen Druschba hat Medienpartnerschaften zu rechts”alMotorradgang Nachtwölfe. » « ternativen” Medien wie “KenFM”, “eingeschenkt.tv”, den Querdenkern “Mutigmacher” und Daniele Ganser, einem Historiker, der Verschwörungserzählungen zum Terroranschlag auf das World Trade Center verbreitet. Lipp beklagt den aufkeimenden Nazismus in Europa und begrüßt die “Befreiung” Chersons. Kseniya, eine befreundete Journalistin aus Kyjiw, flüchtet mit ihrem kleinen Sohn nach Krakau. Auf dem Balkon ihrer Wohnung in Kyjiw wuchsen Erdbeeren. Sie lässt sich Erdbeeren tätowieren. Jetzt arbeitet sie als Documenting Ukraine Project Manager beim IWM. 2010 zeigte sie mir Babyn Jar. In ihrer Wohnung sprachen wir über Frauenrechte. Meine Tochter und ich auf dem Weg zur Demonstration, wir kommen am alevitischen Restaurant vorbei, in dem Konstantin Kaiser gerne Menschen trifft: Der Kurde sieht unsere gelb-blauen Schilder, lächelt uns zu und sagt: “Solidarität!” Mir wird warm ums Herz. Natascha aus Charkiw ist mit ihrer Tochter in Wien, vor kurzem ist ihre Schwester angekommen. Die Schwestern hatte ich 2000 in Charkiw kennengelernt, ich konnte bei ihnen privat Sprachunterricht in Russisch nehmen, über Natascha lief auch die studentische Hilfe meiner ehemaligen Russischprofessorin für das Kindertuberkulosekrankenhaus in Charkiw und so hatte ich Dr. Mankovski kennengelernt: Er erzählte mir von den Widerstandshandlungen einer Krankenschwester gegen die Deportation von ZwangsarbeiterInnen ins “Tausendjährige Reich”. Ich verstand