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damals nicht genug Details, um einen Artikel für ZW zu schreiben, den ich nach meinem letzten Aufenthalt 2010 verfassen wollte. All das, was ich erlebte und in Gesprächen erfuhr, schien mir entsprechend der deutschsprachigen Bücher und Artikel, die ich kannte, nur im Rahmen der “Ost/ West-Spaltung” einorden- und darstellbar — aber ich spürte, dass das nicht stimmte. Gut, dass ich nicht schrieb! Erst jetzt, mit Karl Schlögel, Timothy Snyder und Andreas Kappeler verstand ich, welche Erklärung viel eher zutrifft: Reformorientierte Menschen in Abgrenzung zu Menschen, die die Dinge belassen wollen, wie sie sind. In dieser Sache eine Anmerkung zu den Sprachengesetzen der ukrainischen Regierungen: Es geht im Prinzip um eine positive Diskriminerung des Ukrainischen ahnlich der positiven Diskriminierung zur Gleichstellung der Geschlechter, wie wir sie “im Westen” kennen. Eine Sprache, die im Zarenreich unterdriickt war und aufgrund der Russifizierung — auch im Zuge des Holodomors unter Stalin! — schwand (Verbot, Ukrainisch in Grundschulen zu unterrichten 1864, Verbot, Ukrainisch in staatlichen Institutionen zu verwenden und ukrainische Namen zu taufen 1888, Verbot, russische Biicher ins Ukrainische zu übersetzen 1892, Propagierung des Ukrainischen als für das Russische Reich „schädlich“ 1908, Ermordung ukrainischer LehrerInnen im „Kleinen Terror“ Stalins, der in der Ukraine ein großer war, Verbot 1973, die Eneida von Ivan Kotliarevsky zu feiern, die als Magnum Opus des modernen Ukrainischen gilt), soll die Chance gegeben werden, sich zu erholen und mit dem Russischen zumindest gleichauf zu kommen. Nie war in der Ukraine das Russische verboten. Gesetz wurde: Dass alle im Staatsdienst Ukrainisch verwenden und dass Kinder in den höheren Klassen auf Ukrainisch unterrichtet werden. Karl Schlögel schreibt, dass man sich in Deutschland gelebte Zweisprachigkeit nicht vorstellen kann. In der Ukraine wechselt man behende von einer Sprache in die andere, hat jemand etwa soeben in einer öffentlichen Ansprache Ukrainisch gesprochen und trifft seine Bekannten in der Menge, wechselt er oder sie problemlos ins Russische und wieder zurück, oft mitten im Satz. Es sind eigene Sprachen, aber sie sind sich nah, Grammatik näher dem Russischen, Lexik näher dem Polnischen. “Man versteht sich” — wenn man will - gilt natürlich nicht für mich, deren Russischkenntnisse schr kümmerlich geworden sind und die nur spärlich erahnen kann, was jemand auf Ukrainisch sagt und dass man in der Ukraine auf ukrainische Durchsagen auf den Bahnhöfen umstellte, hatte mich tatsächlich gestresst. So mühsam Russisch gelernt und jetzt auch noch Ukrainisch! Dachte ich mir. Meine ehemalige Studienkollegin Maria übersetzt indes aus dem Russischen, Ukrainischen und Belorussischen! Der ukrainische Präsident, der aus einer russischsprachigen jüdischen Familie aus Krywyj Rih stammt, einer Stadt in einer großen Eisenerz- und Industrieregion, sprach Ukrainisch mit Akzent: Für seinen Einstieg in die Politik besserte er sein Ukrainisch nach. Auch die First Lady stammt aus einer russischsprachigen Familie. In Charkiv besuchte ich 2010 das Holocaustmuseum, das erste derartige Museum im gesamten postsowjetischen Raum, entstanden dank einer privaten Initiative. Die Leiterin erzählte mir damals von der Schlammlawine, die die Gebeine von Babyn Jar in die Stadt schwemmte: Ich war mir damals nicht sicher, ob ich richtig verstanden hatte, 1500 Tote? Am 4.10.2018 erschien in der Neuen Zürcher Zeitung der Artikel “Der gebratene Hahn — wie die von Stalin verordnete antisemitische Hetze tiber die Juden hinwegrollte”, dort finde ich die “Rache von Babyn Jar”, wie sie die Museumsleiterin nannte: Stalin war kein Antifaschist, er war Antisemit, der Massenmord an Jiidinnen und Juden wurde wahrend des Hitler-Stalin-Paktes mit keinem Wort erwähnt, bald nach dem Zweiten Weltkrieg, am 20.11.1948 löste Stalin das Jüdische Antifaschistische Komitee auf und ließ die Mitglieder verhaften und ermorden. Der Holocaust wurde zum Tabu, einzig den “Sowjetbürgern” durfte gedacht werden. Auf dem Höhepunkt der antisemitischen Kampagne 1952 wurde beschlossen, die gewaltige Schlucht von Babyn Jar, in der die Gebeine der erschossenen jüdischen Bevölkerung von Kyjiw lagen, als Reservoir für die Abfälle mehrerer Ziegelkombinate zu nutzen und genau an dieser Stelle der Erzählung wurde die Museumsleiterin emotional: ein viel gescholtenes Wort, das man vielleicht wieder achten sollte. Ich habe den Umschwung der Stimme jetzt noch im Ohr. Ein Damm bildet sich im Laufe der Jahre. Der Schlamm staute sich. Ein Jahrzehnt später bricht der Damm, die Schlammlawine mit den Gebeinen ergieft sich in das tiefer liegende Wohngebiet und reißt 1500 Menschen in den Tod. DissidentInnen vereinigten sich gegen die Auslöschung der Erinnerung, 1959 trat der Kyijwer Schriftsteller Viktor Nekrassow gegen Pläne auf, an der Stelle von Babyn Jar ein Stadion und einen Park zu bauen und Jewgeni Jewtuschenko verfasste 1961 das Gedicht “Babi Jar”. 1991, nach der Erlangung der Unabhängigkeit, wird auf privater Initiative eine Menora errichtet. Voriges Jahr wurde in Anwesenheit von Wolodymyr Selenskyj und Olena Selenska eine Synagoge eröffnet, die als Teil eines größeren Gedenk- und Museumskomplexes gedacht war. Dieser sollte 2023 eröffent werden... 2659 UkrainerInnen sind als “Gerechte unter den Vélkern” ausgezeichnet, alleine in Charkiw sind es 100. Die Ukraine steht damit an vierter Stelle aller Lander. Als ich 2010 Babyn Jar besuchte, blieb ich lange vor der Bronzefigur eines ausgehungerten Mädchens stehen, das fünf Ähren in der Hand hält. Was die Ähren bedeuten sollten, wusste ich damals nicht. Dieses Mahnmal für den Holodomor erinnert an Stalins Ährengesetz — “Gesetz zum Schutz des sozialistischen Eigentums”. Es kostete Millionen UkrainerInnen das Leben, die Zahlen gehen von drei bis sieben. Selbst wer nur eine Ähre aufbewahrte, konnte erschossen oder für zehn Jahre ins Lager gebracht werden. Erschossen wurden auch Kinder, die auf den Feldern, die ehemals ihren Eltern gehörten, nach der Ernte einzelne liegen gebliebene Ähren aufsammelten. Natascha hatte mir gleich beim ersten Sprachaufenthalt im Jahr 2000 vom Holodomor erzählt, als wir durch die Straßen von Charkiw gingen. Zum ersten Mal hörte ich vom Hungermord — ich kannte bloß eine “Hungerkrise”. Im Herbst 1932 führte die sowjetische Regierung das System der “Schwarzen Listen” ein, die Verordnung “über Maßnahmen zur Stärkung der Brotbeschaffung”. Erfüllten Dörfer nicht die Getreideabgabequoten, wurden sie auf die “Schwarzen Listen” gesetzt und durch Einheiten des russischen Geheimdienstes NKWD abgeriegelt: dies kam praktisch einem Todesurteil gleich. Ganze Dörfer starben aus. Diese Maßnahme wurde ausschließlich in jenen Gebieten der Sowjetunion gesetzt, wo mehrheitlich UkrainerInnen lebten. Eltern versuchten zumindest ihre Kinder zu retten und die vom NKWD bewachten Grenzen zu überwinden, die Kinder sollten dann in weniger von der Hungersnot betroffene Städte gebracht und ausgesetzt werden, in der Hoffnung, dass ihnen dort jemand helfen würde. 400 Kolchosen in der ReAugust 2022 79