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gion Charkiw wurden auf die “Schwarzen Listen” gesetzt. Alleine in der Umgebung von Kyjiw wurden am Ende des Frühjahres 1933 fast 300.000 heimatlose Kinder registriert, Waisenhäuser und andere Unterkünfte für Kinder waren bald überfüllt. Die meisten der Kinder starben. Im September 1933 waren rund zwei Drittel aller Schulkinder in den staatlich geführten Schulen als vermisst gemeldet. Stalin schrieb 1932: „Wenn wir uns jetzt nicht daran machen, die Lage in der Ukraine in Ordnung zu bringen, dann können wir die Ukraine verlieren“. Der Holodomor wurde 1933 mit der bislang umfassendsten und blutigsten Säuberungswelle der Sowjetunion kombiniert, Ziel: die ukrainische Intelligenz, von LehrerInnen über SchriftstellerInnen und WissenschaftlerInnen bis zur unteren und mittleren Führungsebene der Partei. Die Liquidierung der obersten ukrainischen Führung erfolgte dann 1937 bis 1939. (Infoportal Östliches Europa, Gerhard Simon). Die Ergebnisse der Volkszählung von 1937 wurden zum Staatsgeheimnis erklärt, die leitenden Mitarbeiter der Volkszählung verschwanden als “Saboteure und Volksfeinde” im Gulag. Die Erforschung des Holodomor stellt sich nicht zuletzt deshalb als schwierig dar, weil viele Dörfer ohnen einen einzigen Überlebenden blieben und Moskau die Akten unter Verschluss hält. Putin sagte 2008: „Wir werfen die Fragen des erfundenen Charakters des Holodomors wie beispielweise durch Politisieren dieser gemeinsamen Probleme der Vergangenheit nicht auf.“ (https://ukrainer.net/die-mythen-uber-holodomor/) Damit wiederholt er bloß die Propaganda, die auch der Pulitzer-Preisträger Walter Duranty verbreitete: Die Hungersnot sei eine Fiktion. Er war der einzige ausländische Journalist, der persönlich ein Interview mit Stalin führte, und stand Franklin Roosevelt nahe. Andere, die die Wahrheit berichteten, kamen gegen seinen Einfluss nicht auf. Raphael Lemkin, juristischer Vater der Ächtung des Völkermordes, beurteilte den Holodomor als Genozid. Die Ukraine erkannte 2006 den Holodomor als Genozid an: Nach der Orangenen Revolution. Am 27. Marz 2022 erinnert Hans Rauscher an Stalins Tater-Opfer-Umkehr: 1933 schrieb Stalin an den Schriftsteller Michail Scholochow: “Die geschätzten Getreidebauern führten eigentlich einen stillen Krieg gegen die Sowjetmacht. Einen Krieg durch Aushungern.” (Blood80 _ZWISCHENWELT land Ukraine: Das Land der “kolonialen Begierde”, Der Standard). Was Stalin damit meinte, erklärt der „Kolchosaktivist“: die „jämmerlichen Heuler“ seien so weit heruntergekommen, „dass sie zusammen mit ihren Angehörigen absichtlich verhungern, obwohl sie Korn haben — nur, um Unzufriedenheit bei anderen Kolchosbauern zu provozieren.“ Die Bauern verhungerten also absichtlich! (Lew Kopelew, S. 360 — Kopelew bekannte in seinen Memoiren voller Reue, dass er die Propaganda glaubte, obwohl er mit eigenen Augen die Wahrheit sah.) Aus Charkiw antwortet am 6. Juli 2022 der Schriftsteller Serhij Zhadan, der Charkiw nicht verlässt, an die friedensbewegten Intellektuellen, die es mit ihrem Aufruf zur Verweigerung der Waffenhilfe an die Ukraine doch nur gut meinen (Zeit online): Wovon ist eigentlich die Rede? Davon, dass wir Ukrainer überzogene Absichten haben? Dass wir nur kämpfen, weil wir zu viele Waffen haben? Dass wir länger Widerstand leisten, wenn wir noch mehr Waffen kriegen? Und dass darin das eigentliche Problem liegt? Verstehen die Verfasser des Briefes wirklich nicht, was die Ukrainer erwartet, wenn sie die Waffen niederlegen? Dazu möchte ich den verehrten Experten auf dem Gebiet der unergründlichen russischen Seele folgendes sagen: Sie haben recht, Putin ist schrecklich, aber ganz und gar nicht groß. Und wenn weiterhin etliche deutsche Intellektuelle Angst vor ihm haben, müssen sie das mit ihrer Selbstachtung und ihrem Gewissen vereinbaren. Was sie sich nicht trauen zu sagen: Wenn die Ukraine verliert, gehen die Opfer nicht in die Tausende, sondern in die Hunderttausende. Und das Blut dieser Toten haben jene auf dem Gewissen, die immer noch unbeirrt mit dem Bösen spielen und dabei allen Wohlergehen und Frieden wünschen. Adam Hochschild fragt in “Spain in our Hearts. Americans in the Spanish Civil War, 1936-1939.” (2016): “More than any other event of its era, the Spanish Civil War invites “What if questions. What if the Western democracies had sold Republican Spain the arms it repeatedly, urgently tried to buy?” Der völkermörderische Angriffskrieg auf die Ukraine durch die Russländische Föderation ist kein Bürgerkrieg. Aber dieser Satz zeigt: Gegen Bomben reichen Worte nicht. Waffen kann man nicht um’s Eck kaufen. Reichen wir dem Widerstand die Hand, der auch der unsere ist. Anna Patermann vom Verein zur Demokratisierung sagte unmittelbar nach dem russländischen Überfall: “Es braucht mehr.” Mehr von allem für die VerteidigerInnen. Mehr von allem gegen die Menschenschlächter und deren PropagandistInnen. 24.2.2022, Putins Truppen sind einmarschiert. Der Musiker und Lyriker Oleh Kadanov gründet Culture Shock Kharkiv. Serhij Zhadan und viele andere Kulturschaffende sind dabei: bringen Medikamente und Lebensmittel — und bitter notwendige Ausriistung fiir die Front. Charkiw ist seit 2014 eine Stadt im Widerstand, seit damals leistet ein ganzes Netzwerk von Freiwilligen Hilfe für die Binnenvertriebenen, seit damals leisten Intellektuelle und DichterInnen Widerstand gegen die russländische Propaganda, auch über die Open University in Exile. Bei den Lesungen “Translating the war” im Juni und Juli riefen die ukrainischen SchriftstellerInnen und MusikerInnen um Spenden für die zweitgrößte Stadt der Ukraine auf, für Charkiw, so nah an der Front. Die Lyrikerin Olena Stepanenko war zwei Wochen lang in einem Keller in Butscha versteckt, sie erzählt vom Geruch der Toten, zwei Wochen lang, es war erst vorbei, als die ukrainische Armee Butscha befreite. Danach, so erzählt sie, musste sie “wieder essen lernen”. Sie ist nun mit ihrem kleinen Sohn bei einer Freundin in England. Aus ihrem Gedicht höre ich Celan. Vor dem Angriffskrieg hatte sie Corona, sie leidet an Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, fragt sich: Wegen Corona? Wegen dem Krieg? Wegen beidem? Ihre Kollegin Iva Kiva, ursprünglich aus Donezk, jetzt Lwiw, erzählt von gleichen Symptomen. Kiva hat Verwandte im Holodomor und im Holocaust verloren, schreibt in ihrem Gedicht: “und weißt nicht, wie man die Sprache der Wut erlernt”. Sie half in Lwiw Vertriebenen, schreibt: “wo Freiwillige die Schlüssel zum Leben hinterlegen.” Der Lyriker Lesyk Panasuk schreibt über den Osten der Ukraine, russländische Soldaten verbrennen ukrainische Bücher, verbrennen Bücher aller Sprachen, die sie nicht verstehen. Ganna Gnedkova übersetzt die Gedichte von Kateryna Mikhalitsyna: “statt zum Buchhändler gehe ich Ader