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litten hatten, und jene, die rasch das Fähnchen nach dem Wind drehten und jetzt zu den neuen Herrschenden gehören wollten. Eine Figur des Romans, ein tschechischer Freund Gertas und nunmehriger politischer Funktionär, versucht die Widersprüche zwischen der offiziellen Geschichtsschreibung zu den Vertreibungen und Gertas Schilderungen auf eigene Faust aufzuklaren. Dabei fallen ihm nicht nur divergierende Todeszahlen auf, sondern auch, dass im Sterberegister zu den rund 500 Toten des Lagers bei Pohorelice überall die gleiche Todesursache verzeichnet ist — und zwar unabhängig vom Alter — Dysenterie und Marasmus senilis, Durchfall und Altersschwäche. Bei seinen Kollegen stoßen seine Recherchen auf Ablehnung und sie verweisen auf die grassierende Ruhrepidemie, und außerdem sei es damals auch um die Reputation der jungen Republik gegangen. Auch die Enteignung der Bauern und die Kollektivierung der Landwirtschaft in den Nachkriegsjahren, die in manchen Fällen zu fragwürdigen ProfiteurInnen führte, findet in Tuckoväs Erzählung Platz, ebenso wie die Schilderung der unterschiedlichen Lebenswege von Gertas ebenfalls vertriebenen Arbeitskolleginnen auf dem Bauernhof. Greta kann mit ihrer Tochter nach zwei Jahren wieder nach Brünn zurückkehren und findet Arbeit in einer Fabrik. Doch die Stadt ist nicht mehr die, die sie kannte. Um ihre Tochter zu schützen, die in der Schule schikaniert wird, will sie alles Deutsche von ihr fernhalten. Erst die politisch engagierte Enkelin interessiert sich für die Geschichte ihrer Großmutter und arbeitet an einer Gedenkinitiative mit. Damit verweist Tuckoväs Roman, der 2009 auf Tschechisch erschienen ist, bereits in die Zukunft. Die ofhizielle „Erklärung der Versöhnung“ der Brünner Stadtverwaltung erfolgte anlässlich des 70-jährigen Jahrestages der Vertreibung im Jahr 2015. Den ausgesprochen kritischen Blick auf die Zeit schaft teilt Katerina Tuckovä mit anderen der kommunistischen HerrAutorInnen, deren Werke ins Deutsche übertragen wurden, wie auch Rada Denemarkovä. Die Schriftstellerin, Journalistin und Theatermacherin ist 1968 in Prag geboren, studierte dort Germanistik und Bohemistik und lehrt am Institut für tschechische Literatur in Prag. Ihr an zeitgeschichtlichen Geschehnissen orientierter Roman „Ein herrlicher Flecken Erde“ ist harte Kost. Auch Denemarkovä wählt zur Trägerin ihrer Geschichte eine 86 ZWISCHENWELT junge Frau. Erzählt wird die Geschichte der 1929 geborenen jüdisch-deutschen Tschechin Gita.! Sie kehrt, nachdem sie das Konzentrationslager, in dem ihre EItern und ihre Schwester ermordet wurden, überlebt hat, wieder in ihr ehemaliges Heimatdorf zurück. Dort schlägt der jungen Frau von einst vertrauten Menschen blanker Hass entgegen, sie wird körperlich bedroht und als deutsche Nazi beschimpft. Auf die Beteuerung, dass ihr Vater als Jude im KZ umgebracht wurde, bekommt sie zu hören: „Aber Hitler hat doch aus jedem Juden, der ihm im Krieg nützlich sein wollte und konnte, einen Ehrenarier gemacht.“ Gita ist fassungslos, doch dann tauchen eigene Erinnerungen auf. Eindrücklich sind Denemarkoväs Beschreibungen kindlicher Wahrnehmungen, so etwa wenn ein Dorfbewohner, ein kleiner Junge, bei spielen im Garten der Eltern eine weiße Schale ausgräbt, die sich dann als Totenschädel herausstellt, oder wenn Gita — „Ein Foto im Hirn“ - sich an die Armbinde des Vaters erinnert, auf der eine kleine Mühle, eine Blume abgebildete ist. „Wenn man hineinpustet, geraten die vier eckigen, abgeknickten Blätter in Bewegung. [...] Damit mich unsere Leute in Ruhe lassen.“, sagt der Vater. „Wer waren unsere Leute?“, fragte sich Gita. Uber Jahrzehnte versucht sie, den Besitz ihrer Familie zurückzubekommen und — zu einem späteren Zeitpunkt — ein Denkmal für ihren ermordeten Vater im Ort errichten zu lassen. Dabei stößt sie auf den wütenden Widerstand der Dorfbevölkerung und der ProfiteurInnen der Enteignung. Diese Enteignung der deutsch-jüdischen Familie fand zweimal statt, einmal unter der nationalsozialistischen Herrschaft und ein zweites Mal nach Kriegsende. Denn mit der Vertreibung der Deutschen im Jahr 1945 aus der wiedererrichteten Tschechoslowakei wurden vielfach auch von den Nazis verfolgte deutsch-tschechische Jüdinnen und Juden erneut vertrieben und deren Eigentum konfisziert, wie Denemarkovä in ihrer Erzählung exemplarisch darstellt. Widersprüchliche Zahlen zur „wilden Vertreibung“ der Deutschen aus Brünn im Mai 1945 Während der tschechische Wissenschafter Tomäs Stanek den Begriff „Brünner Marsch“ verwendet, benutzt der Verband der Heimatvertriebenen aus Brünn den Begriff „Brünner Todesmarsch“. Differenzen gibt es sowohl hinsichtlich der Zahl der Vertriebenen als zur Zahl der Toten. Nach Stanek wurden „17.014 Personen aus Brünn ausgewiesen, nicht eingerechnet rund 2.000 bis 2.500 Deutsche aus dem 13. Polizeirevier“, dazu kamen noch Vertriebene aus anderen Ortschaften.” Der Verband der Heimatvertriebenen aus Brünn hingegen spricht — unter Berufung auf einen Zeitungsartikel der englischen Journalistin Rhona Churchill in der Daily Mail vom 6. August 1945 — von 25.000 Vertriebenen.’ Auch zur Anzahl der Vertriebenen, die am 1. Juni über die Grenze nach Österreich kamen gibt es keine genauen Zahlen. Laut Stanek sollen es aber bedeutend weniger als die kolportierten 18.000 — 20.000 Personen gewesen sein.‘ An die 2.500 Menschen des „Brünner Marsches“ konnten nach Überprüfung wieder nach Brünn zurückkehren und an die 1.000 wurden auf landwirtschaftliche Anwesen in nahegelegenen Dörfern verteilt. Im provisorischen Aufnahmelager Pohrlitz, wo auch eine Zivilverwaltung eingerichtet wurde, verblieben schätzungsweise 6.000 Personen (Stanek, S. 119). Noch stärker schwankt die geschätzte Zahl der Todesopfer. Stanek spricht von einer Gesamtzahl der Todesfälle der Aussiedler auf tschechoslowakischem Gebiet von 649 Personen, wobei die meisten im Lager Pohrlitz an einer Ruhrepidemie verstorben sein sollen. (Stanek, S. 120) Auf österreichischer Seite wurden zwischen der Grenze und Wien in verschiedenen Ortschaften 1.050 Vertriebene beerdigt. Der Bund der Heimatvertriebenen aus Brünn, der sich in seinen Schätzungen auf Informationen von ZeugInnen beruft, spricht hingegen von insgesamt 5.200 Toten (4.140 Todesfällen auf mährischem Boden und 1.066 auf dem Weg von der Grenze nach Wien, S. 163), eine Anzahl die in der wissenschaftlichen Literatur stark bezweifelt wird. Auf einen anderen, wenig beachteten Aspekt der unmittelbaren Nachkriegszeit verweist die Historikerin Eva Hahn. Während der sog. Mairevolution im Jahr 1945 kam es in den tschechischen außerordentlichen Volksgerichten auch zur Hinrichtung zahlreicher Tschech(inn?)en. Von 713 zum Tod verurteilten Personen waren 234 Tschechen, eine Zahl die laut Hahn weit höher ist, als in allen anderen westeuropäischen Ländern.’