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Zum Hundertjahr-Jubiläum der Salzburger Festspiele hat Robert Streibel den postum erschienenen (und einzigen) Roman des Juristen, Musikvermittlers und -publizisten Paul Stefan „Das war der letzte Sommer“ neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen.' Der verdienstvolle Historiker und Autor Streibel, im Jänner diesen Jahres mit der Verleihung der Goldenen Wappenplakette der Stadt Krems für seine dreißigjährige Forschung zu Krems und Umgebung geehrt, ist neben seiner Funktion als langjähriger Direktor der Volkshochschule Hietzing Verfasser von zahlreichen Werken zur Zeitgeschichte, Romanen und Lyrik. Seit Kurzem ist er auch Mitglied des Vorstands der Iheodor Kramer Gesellschaft. „Das war der letzte Sommer“, kurz vor Stefans Tod 1943 im amerikanischen Exil fertiggestellt (1943 Concord, Mass.) und 1946 erstmals im Druck erschienen?, beschreibt den letzten Festspielsommer vor dem „Anschluss“. Was auf den ersten Blick als leichte, nostalgisch verklärte Sommerlektüre für Festspielbesucher und Opernaficionados wirkt, eingebettet in den Politkrimi der letzten Festspiele 1937, kurz vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, entpuppt sich bei genauerem Lesen als das autobiografische Werk eines langjährigen Beobachters und Akteurs der Festspiele und Der Roman beschreibt eine sich anbahnende des österreichischen Kulturlebens. Liebesgeschichte zwischen Dr. Peter Martin, einem älteren Kulturpublizisten und Berater der Festspiele, der als Sprachrohr des Autors gedeutet werden kann, und der jungen amerikanischen Sängerin Evelyn Curtis. Bei einem zufälligen Treffen im Festspielbüro lernt Martin die persönlichen und künstlerischen Qualitäten der jungen Frau kennen und schätzen. In der Folge wird sie durch sein taktisches Eingreifen erfolgreich als Pamina in Mozarts „Zauberflöte“ debütieren. Mit wenigen Ausnahmen, darunter die Hauptpersonen Evelyn Curtis (die allerdings Züge von Stefans langjähriger Geliebten und späteren Frau Jella Braun-Fernwald trägt) und ihrem Landsmann, dem Journalisten Oliver Stanton (dessen Personage wohl ebenfalls von real existierenden Personen inspiriert ist), beruht das Romanpersonal auf historisch verbürgten Festspielakteur:innen. Diese werden manchmal namentlich genannt, wie Max Reinhardt und sein Impresario Rudolf Kommer, Arturo Toscanini, Bruno Walter, Clemens Krauss oder Landeshauptmann Dr. Franz Rehrl. Manche werden mit leicht geänderten Nachnamen, so etwa Matthias Haberhauer (der Komponist Josef Hauer) und Toscanini’s Assistent und Korrepetitor Landsteiner (Erich Leinsdorf, geb. Landauer) angeführt, andere wiederum nur mit ihrer Funktion als „der Erzbischof“ oder „der Domkapellmeister“ beschrieben (wobei die liebevolle Darstellung sich nicht mit den heute bekannten historischen Fakten deckt). Obwohl das bunte Spektrum an politischen Ereignissen und individuellen Romanfiguren nicht immer historisch belegbar oder erkennbar ist, werden sich in Zukunft wohl noch weitere Vorbilder und Inspirationsquellen identifizieren lassen. Das Buch endet mit einem Besuch des zukünftigen Liebespaares in Venedig bei Arturo Toscanini, der das Exil von Peter Martin anklingen lässt und die Hoffnung auf ein glückliches Wiedersehen aller Festspielakteure in einem freien Salzburg ausspricht. Der Autor Paul Stefan (geboren 1879 in Brünn als Stefan Paul Grünfeld, gestorben 1943 in New York) gehört zu den gut erforschen Musik-Exilant:innen. Dennoch ist es dem Herausgeber Streibel gelungen, in seinem Nachwort zahlreiche neue Forschungsergebnisse zu präsentieren. In seiner biographischen Skizze „Paul Stefan: mehr als nur ein Musikkritiker“ lässt er in aller Kürze den Werdegang des Fabrikantensohns aus Brünn zu einem der wichtigsten Akteure und Propagandisten der Wiener Moderne in der Musik Revue passieren. Stefan wird nicht nur als Vereinsmitbegründer (1903 Verein zur Förderung moderner Kunst/Ansorge-Verein, 1904 Vereinigung schaffender Tonkünstler Revue, 1922 Internationale Gesellschaft für Neue Musik - IGNM), aktives Mitglied und Funktionär (Obmann Akademischer Verband für Literatur und Musik, Schönberg’s Verein für musikalische Privataufführungen, Vizepräsident der Wiener Sektion der IGNM), als Verfasser einer der ersten Mahler-Streitschriften und Biographien‘ und dreihundert weiterer Bücher und Broschüren, darunter eine frühe Hommage an Max Reinhardt (1923) und als langjähriger Chefredakteur der Musikblatter des Anbruchs’ vorgestellt, sondern Streibel hebt neben Stefans Vortrags- und Lehrtätigkeit an Wiener Volkshochschulen und am ReinhardtSeminar auch seine Bedeutung als Österreich-Korrespondent der NZZ hervor. Wie ging es nun weiter mit dem Autor nach diesem „letzten Sommer“? Paul Stefan war wegen eines Artikels gegen den Nationalsozialismus in der von Imre Bekessy herausgegebenen Boulevardzeitung „Die Stunde“ besonders gefährdet, weswegen er sich bereits am 3. März in die Schweiz begab. Knapp vor dem „Anschluss“ folgte auch Jella / Gabriella Braun-Fernwald ihm nach.° Die 1894 in Wien geborene Opern- und Konzertsängerin, Stefans langjährige Geliebte, war 1938 aus „rassenpolitischen“ Gründen aus dem Verband der Wiener Volksoper entlassen worden. Das Paar kam 1939 nach Paris, wo sie als Musikredakteure für den „Österreichischen Freiheitssender“ auf Radio Normandie tätig waren. Auch ein Konzept für Sendungen auf Radio Toulouse und Radio Bordeaux für die „Ligue autrichienne“ könnte auf ihrer Initiative beruht haben.’ Nach der Internierung in Gurs zwischen Mai und Juli 1940 konnte das Paar im November nach Montauban fliehen, wo sie heirateten. Jella Braun war bereits seit 1929 von dem Dirigenten und Pädagogen Hermann Schmeidel geschieden; Paul Stefan hatte im Oktober 1938 die Scheidung von seiner ersten Frau Margarethe Winding erreicht. Im Dezember versuchten die beiden den Fußmarsch über die Pyrenäen nach Spanien. Sie wurden an der Grenze aufgehalten und zurückgeschickt; bei einem zweiten Versuch gelang es dann doch, die spanische Grenze zu überqueren. Über Portugal wurde am 25. April 1941 New York erreicht. Paul Stefan soll 1943 in New York in bitterster Vereinsamung gestorben sein, wie Ludwig Ullmann schreibt.’ Jella Braun überlebte August 2022 89