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Konstantin Kaiser Man soll die Verirrungen des Geistes nicht für ein Bedürfnis des Herzens halten. Johann Nestroy „Die Hexen“, wurde 1987 in der Arbeiter-Zeitung, als der neue Zeitgeist schon unterwegs war, verkündet, „brannten nicht im ‚finsteren Mittelalter‘, sondern ab dem späten 14. Jahrhundert. Die Hexenverbrennungen begleiteten die Entwicklung und Verfestigung eines Weltbildes, das die Natur beherrschbar machte, ganze Kontinente unterjochte und kolonialisierte und alles Widersprechende abspalten, diskriminieren und ausrotten mußte.“ Dergleichen Zitate kann man heute sozusagen an jeder Ecke auflesen. Daß ein „Weltbild“ koloniale Eroberungen macht, mag als sprachliches Mißgeschick hingehen. Daß jedoch ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften und der Zunahme der Hexenprozesse suggeriert wird, ist nicht belegbar. Ein Aberglaube, der Krankheiten aus der Wirkung von Dämonen, das Sauerwerden der Milch aus den Verwünschungen der Nachbarin und den Hagelschlag als Machination des Satans deutet, trägt wohl kaum zur Beherrschung der Natur bei. Das manichäische Weltbild der Inquisitoren war mit dem Gedanken der Einheit der Natur, der universellen Gültigkeit der Naturgesetze nicht vereinbar. Historisch haben die Hexenprozesse die Versuche des Papsttums, sich als weltliche Zentralmacht zu etablieren, die Kreuzzüge gegen die Katharer, die Hussitenkriege, die Niederschlagung des großen deutschen Bauernaufstandes, die Gegenreformation usw. „begleitet“. Im siecles des lumi£res, im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter des Triumphes jener Rationalität, die „die Natur beherrschbar machte“, hat die gerichtliche Verfolgung der Hexerei aufgehört.” Nur das Absehen von den konkreten Kämpfen der Zeit, von den wirklichen Widersprüchen der Epoche (die vielmehr als ein homogenes Medium gefaßt wird, dem sich dann erst ein „Widersprechendes“ gesellt) läßt die Behauptung, die Hexenverbrennung sei eine Begleiterscheinung des Fortschritts der Naturbeherrschung, überhaupt zu. Man muss auch verschiedene historische Phasen in ihren spezifischen Widersprüchen zu untersuchen wissen. „... der Höhepunkt des Hexenwahnsinns ist keineswegs die finsterste Zeit des Mittelalters, sondern der große krisenhafte Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, das Melitta Urbancic örung der Vernunft“ zu studieren Zeitalter Galileis und Keplers. Auch hier kann man feststellen, dafs viele der bedeutendsten Geister der Epoche von verschiedenen Formen des Aberglaubens nicht frei waren ... Das Gemeinsame solcher Zeitalter des Wahnsinns, des ins Extreme gesteigerten Aberglaubens und Wunderglaubens liegt darin, daß es immer Zeitalter des Untergangs einer alten Gesellschaftsordnung, einer seit Jahrhunderten eingewurzelten Kultur und zugleich Epochen der Geburtswehen des Neuen sind.“ (Zerstörung der Vernunft 1, 81).? Der Streit des Alten und des Neuen ist in den modischen Klagen, die Vernunft habe den Wahnsinn hervorgebracht, die Naturwissenschaft die Zerstörung der Natur verursacht, die Judenemanzipation erst den modernen Antisemitismus ermöglicht‘, der Fortschritt nur dem Elend neue Bahn verschafft, nicht mehr von Interesse. Munter projiziert der alltägliche Irrationalismus von „links“ das Verhängnis, dem es in der Gegenwart zu steuern gälte, in eine Vergangenheit zurück, die schicksalhaft das Heute zu beherrschen scheint.’ Fatalistisch gestimmt ist auch der alltägliche Irrationalismus von „rechts“. In einem Zeitungsartikel über das Marchfeld findet die häufig letale Autoraserei junger Leute die „Erklärung“: „Der Mensch braucht auf die Dauer mehr als bloß idyllische Zustände, er will Freiheit, Chaos, mit einem Wort: ‚Action‘.“° Die äquivoke Zusammenziehung von Freiheit und Chaos irritiert vielleicht nur mehr den, der einmal gelernt hat, Freiheit als „Einsicht in die Notwendigkeit“ zu schätzen. Auffälliger fast ist die Tendenz, die Probleme, die etwa durch das irrationelle (im Straßenverkehr nicht adäquate) Verhalten der Leute indiziert werden — so z.B. die kulturelle Depravation einer Region, die als Peripherie einem Zentrum zugleich zugeordnet und von ihm geschieden ist -, durch den Hinweis auf ein in der Natur des Menschen liegendes Bedürfnis vom Tisch zu wischen. Mit der deklarierten Unlösbarkeit des Problems wird zugleich eine Umfunktionierung der im irrationellen Verhalten offenbar werdenden Handlungsimpulse anvisiert: Man müsse den Leuten eben andere „Herausforderungen“ bieten. „Herausforderung“ war in Österreich das in den letzten Jahren wahrscheinlich meistverwendete politische Schlagwort. Wenn man die japanische (höhere Arbeitsproduktivität), die wissenschaftlichtechnische usw. Herausforderung nicht annehme und bestehe, Urbancics kraftvolles Sichaufbäumen für das gegebene und anzunehmende Leben entfaltet ein Gefühl des Trostes und wirkt auf eine vielleicht ein wenig altmodischaufrechte Art und Weise vorbildhaft. Marcus Neuert auf www.literaturhaus.at am 21. November 2022 Melitta Urbancic: Unter Sternen. Gedichtauswahl. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2022. 126 S. ISBN 978-3-903522-046. Euro 18,00