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drohe der Nation der Niedergang zu einem Entwicklungs- und Billiglohnland. Suggeriert wurde die Vorstellung eines naturnotwendigen Kampfes der Völker auf dem Weltmarkt ums Überleben; man müsse mit den Wölfen heulen, wolle man nicht von ihnen zerrissen werden. Unterschwellig verlangt das Schlagwort „Herausforderung“ die Zurückstellung der Interessen, die man als die eigenen erkannt hat, und die Nicht-Austragung der daraus entspringenden sozialen und politischen Konflikte. D.h., die „idyllischen Zustände“, in denen eine Höherentwicklung aufgrund interner Faktoren (in einem Bei-Sich-Sein) projektierbar erscheint, werden zugunsten externer Faktoren, denen man sich zunächst zu unterwerfen hat, radikal entwertet. Umgekehrt wird für die im Namen der „Herausforderung“ vollzogene Selbstaufgabe der Zuwachs eines neuen, ungehemmteren Adam (Freiheit und Chaos) in Aussicht gestellt.” Trägt der alltägliche Irrationalismus von „links“ überwiegend resignative, passivierende Züge, weiß sich der alltägliche Irrationalismus von „rechts“ in Übereinstimmung mit der bourgeoisen Rebellion gegen die vom Bürgertum mitgetragene Nachkriegsordnung. Von den Ansätzen zu einem „linken“ Irrationalismus unterscheidet sich der „rechte“ Irrationalismus allerdings auch dadurch, daß er auf ein bereits entwickeltes gewaltiges Arsenal irrationalistischer Philosopheme und Ideologeme zurückgreifen kann. Dieses Arsenal ist freilich nicht jenseits der Tradition verfügbar, der Tradition, in der einerseits sozialdarwinistische (nach einem neueren Vorschlag besser: „soziobiologische“) Vorstellungen nachgerade zum Volksurteil geworden sind, in der anderseits die philosophischen Protagonisten des Irrationalismus, Nietzsche, Heidegger, Spengler, als Vorläufer und Wegbereiter der radikalirrationalistischen nationalsozialistischen Weltanschauung sich darstellen. Das hat zur Folge, daß z.B. die Versuche, einen Spengler für die Gegenwart „instandzubesetzen“, zuerst eine kosmetische Operation erfordern, nämlich die Verwerfung der offen rassistischen Äußerungen Spenglers, eine Verwerfung, die, wie versichert wird, das Substantielle der Gedankenwelt Spenglers nicht betrifft. Die Ausblendung der frontal gegen die Arbeiterbewegung gerichteten Bemerkungen Nietzsches aus einer ästhetisierenden Nietzsche-Rezeption verfährt analog. In zweiter Linie jedoch kann der Rückgriff auf den Vorkriegsirrationalismus nur dann institutionell abgesichert und ohne weitere Befangenheit ausgeweitet werden, wenn es gelingt, eine solche Interpretation der nationalsozialistischen Vergangenheit durchzusetzen, die bestimmte Erscheinungen (Judenverfolgungen unter Absehung von der konkreten Geschichte und sozialen Funktion des Antisemitismus; Massenhysterie, ohne nach dem Inhalt des Massenwahns zu fragen) künstlich isoliert und verabsolutiert. Daß Nietzsche ein Anti-Antisemit gewesen ist, und daß Spengler, der elitäre, preussisch-vornehme Spengler, dem Nationalsozialismus als einer Massenbewegung äußerst reserviert gegenüberstand, bekommt man im Vorfeld jeder irrationalistischen Suada taxfrei zu hören. Der in der Gegenwart erneute Angriff auf die Vernunft maskiert sich an den Universitäten als Angriff auf die herrschend gewordene positivistisch verengte Rationalität, die sich der Antwort auf die Fragen der Weltanschauung agnostizistisch entschlägt. Inhaltlich richtet er sich allerdings gegen alle - und seien sie noch so marginale — Bestrebungen, „die Gesetzmässigkeit des historischen Ablaufs, des gesellschaftlichgeschichtlichen Fortschritts zu ergründen, die Vernunft in der Geschichte, und zwar die der menschlichen Geschichte immanent innewohnende Vernunft, die Vernunft in der Selbstbewegung der Gesamtgeschichte zu entdecken und auf den Begriff zu bringen.“ (Zerstörung der Vernunft 1,111). Diese Formulierung mag heute in zweierlei Hinsicht hochgestochen klingen. Zum einen treten diese Bestrebungen heute nicht in der Form eines sich selbst koordinierenden und zusammenhängenden Diskurses hervor, wie er etwa noch für den Verlauf der philosophischen Entwicklung von Kant bis Marx konstruierbar wäre. Die Anläufe sind fragmentarisch, vereinzelt, mehr Möglichkeit als Wirklichkeit. Die Schwierigkeiten, den „gesellschaftlich-geschichtlichen Fortschritt“ neu zu begründen, erscheinen als fast unlösbar und legen die „Lösung“ nahe, „die Schranken des verstandesmäßigen Erkennens zu Schranken der Erkenntnis überhaupt erstarren“ zu lassen und an Stelle der gedanklichen Durchdringung des geschichtlichen Zusammenhangs die Einsetzung einer neuen Mythologie zu fordern. (Vgl. Zerstörung der Vernunft 1, 86). Die fortschrittlichen Bestrebungen in den Wissenschaften sind zudem mit den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen nur wenig verbunden (bzw. nur über schr komplizierte Vermittlungen). Der irrationalistische Angriff ist daher immer noch mehr auf die Ausnützung der Schwächen des dialektischen Denkens gerichtet als auf die Bestreitung seiner Errungenschaften. Die angewandte Strategie ist demgemäß mehr die Umarmung als die Konfrontation. Umso cher entsteht terminologisch und sachlich eine immer breitere Zone, in der Schlagwörter und Konzepte der „Rechten“ auch von „Linken“ fast bedenkenlos übernommen und cklektizistisch angewandt werden.Zum anderen ruft die Rede von der „Vernunft in der Geschichte“ angesichts der historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts heute fast automatisch den Gedankenreflex hervor, es handle sich da um ein Ideologem des 19. Jahrhunderts, welches DEZEMBER 2022 7