„Ich habe Angst vor der Schule.“
„Abends konnten wir das Gericht verlassen“, erzählt Alexej, „meine
Tochter war hungrig, in Tränen aufgelöst, zitterte.“ Ich sagte zu
ihr: „Maschenka, beruhig dich. Die Verhandlung ist vorbei, ich
muss eine Strafe zahlen, sie werden uns jetzt in Ruhe lassen. Es ist
vorbei.“ Sie sagte: „Ich habe Angst zur Schule zu gehen.“ Doch
ich überzeugte sie, dass sie sich keine Sorgen machen brauche.“
Als am nächsten Tag Mascha in die Schule ging, erhielt ihr Vater
kurz darauf einen Anruf: „Alexej Vladimirowich, Sie müssen so¬
fort in die Schule kommen, der FSB (Sicherheitsdienst) hat Ihre
Tochter mitgenommen.“ „Ich zog mich an, lief los“, sagt Alexej
und zittert, als er erzählt, „der FSB war da, ich fragte: ‚Wo ist
meine Tochter?“ Sie sagten, dass sie im Nebenzimmer sei und man
mit ihr ein Gespräch führe. Dreieinhalb Stunden lang redeten
sie auf mich ein, dass meine Erziehung inadäquat sei. Sie sagten,
man würde sie mir wegnehmen und mich ins Gefängnis werfen.
Sie schlugen vor, Mascha solle ein Jugendteam zur Unterstüt¬
zung von Russlands Truppen leiten. Ich lehnte höflich ab, sie
habe sehr viel für die Schule zu tun und viele außerschulischen
Aktivitäten und gar keine Zeit.
Danach konnte Mascha nicht mehr zur Schule gehen. Alexej
erzählt, sobald sie über die Schule sprache, bekam sie Panikattacken
und flehte ihn an, nicht mehr dorthin zu müssen.
Der nächste Termin mit dem FSB war am letzten Tag des Jahres.
„Provokative Behauptungen“
Die Schuldirektorin Larisa Trofimowa streitet ab, dass irgend¬
jemand wegen der Zeichnung eines Schulmädchens die Polizei
gerufen hätte. „Sagen Sie, glauben Sie, dass irgendjemand wegen
einer Zeichnung eines Schulmädchens die Polizei ruft? Das ist
unmöglich“, sagt sie. „Es ist Unsinn, so etwas über diese Schule zu
behaupten. Es ist ein Verbrechen und ein Angriff auf die Autorität
einer Lehrperson. Sie ist 87 Jahre alt. (Die Direktorin bezieht
sich auf Nina Grigoriewna, die Zeichenlehrerin, die die Polizei
gerufen hat; sie war für eine Stellungnahme nicht erreichbar.)
Das ist eine Verletzung aller menschlichen Normen. Dieses arme,
unglücksselige Kind wird in eine Intrige hineingezogen und ich
weiß nicht, in welche und warum. Alle wussten seit langem über
Alexej Moskaljew Bescheid. Das ist Sache des FSB, ich kann dazu
nichts sagen. Es ist falsch, die Schuld auf die Schule zu schieben.
Das Mädchen hat die Schule seit fast einem Jahr nicht mehr
besucht, da gibt es keine Fragen.“ Die Direktorin widersprach
der Aussage von Alexej, er mache ‚provokative Behauptungen,
die nicht wahr sind.‘ „In unserer Schule wurden keine Bilder
gezeichnet und sollte etwas gezeichnet worden sein, wüssten nur
die Lehrerin, die Klasse und Mascha davon. Lassen Sie uns diese
Diskussion beenden.“ Damit beendete Larisa Alexandrowna’ das
Telefonat und war nicht mehr erreichbar. Es war nicht möglich,
ihre Meinung zu den weiteren Entwicklungen in Erfahrung zu
bringen. Auch Maschas Klassenlehrerin Jekaterina Owsjannikowa
reagierte auf keine unserer Anfragen.
Moskalev berichtete, dass eine Woche vor dem Jahreswechsel
ein Mann bei ihm anrief, der sich als Verwaltungsbeamter der
Stadt Jefremow vorstellte. Er sagte, er habe ein Geschenk für
Mascha. Das ließ bei Alexej die Alarmglocken schrillen, denn
in 13 Jahren hatte die Stadtverwaltung Mascha noch nie etwas
geschenkt. Er ging nicht mehr aus dem Haus. „Am 30. Dezem¬
ber um halb sieben Uhr morgens läutete das Telefon. „Jemand
murmelte etwas in den Apparat“, erzählt Alexej. „Ich machte
mich gerade für die Arbeit fertig. Ich sah aus dem Fenster und
erschrak. Da standen drei Polizeiwagen, zwei weitere an der
Seite des Hauses, ein Wagen vom Katastrophenschutz MES und
weiter weg ein Feuerwehrauto. Ungefähr zwölf Leute vom FSB
und einige Polizisten kamen auf die Haustür zu. Sie hatten eine
Flex dabei. Ich verstand sofort, dass sie wegen uns gekommen
waren.“ Alexej erinnert sich, dass er zuerst nicht die Tür öffnete,
aber als sie anfıngen, die Tür aufzusägen, blieb ihm nichts ande¬
res übrig. Sie zeigten ihm einen Durchsuchungsbefehl. Alexej
nennt die Durchsuchung eine „Plünderung“. Die FSB-Beamten
rissen die Sachen aus den Schränken, schleuderten sie auf den
Boden, trampelten darauf herum, rissen Kabeln heraus, Bilder
von den Wänden, warfen Möbelstücke um. Sie entdeckten das
Bargeldversteck - 125.000 Rubel (ca. 1.500 Euro) und 3.150
US Dollar. Moskaljew sagt, seine gesamten Ersparnisse. Bis in
die 2000er Jahre war er als Geschäftsmann tätig, danach hatte
er mit der Hühnerzucht begonnen. Die Eindringlinge nahmen
das ganze Geld, Alexejs Dokumente und seine elektronischen
Geräte: Computer, Mobiltelefone, selbst die alten Tastentele¬
fone. Sie fotografierten Maschas Zeichnung mit der Aufschrift
„Ruhm der Ukraine!“ Nach der Hausdurchsuchung wurde Alexej
zum FSB gebracht und Mascha in eine „soziale Einrichtung“
(Waisenhaus). Alexej erinnert sich an Fragen wie: Woher hast
du die Dollar? Wer ist dein Vorgesetzter? Für wen arbeitest du?
Danach wurde ein Strafverfahren (Teil 1, Artikel 280.3 des
Strafgesetzbuches) wegen „wiederholter Herabwürdigung des
Militärs“ eingeleitet. Moskaljew erinnert sich, dass die Beamten
ihn beim Verhör „mit dem Kopf gegen den Boden und gegen die
Wand stießen“. „Am Nachmittag sperrten sie mich zweieinhalb
Stunden in ein Zimmer, drehten die russische Nationalhymne
mit voller Lautstärke auf und gingen. Es war so laut, dass die
Wände bebten. Ich bekam Herzschmerzen. Sie bekamen Angst,
ich könnte sterben, und riefen einen Krankenwagen. Die Ärzte
maßen meinen Blutdruck, gaben mir zwei Tabletten und eine
Injektion und gingen wieder. Danach zeigten die Beamten [des
FSB] mir die Social Media Kommentare meiner Tochter. Ihr
Kommentar war unter einem Post, in dem stand: „Unsere Männer
geben ihr Leben ohne Bedauern.“ Mascha hatte geantwortet:
„Für welche Summe sterben sie? 200.000 Rubel (ca. 2.400 Euro)
pro Monat oder ein bisschen mehr?“
Vladimir Bilienko von OVD-Info vertritt Alexej. Er sagt, er
habe von den Ermittlungsbehörden herausgefunden, dass der
Fall vom FSB initiiert und dann auf Polizeiebene verlegt worden
sei. Der FSB hatte offenbar Informationen über Alexejs Social
Media Posts. [...] Nach der Erledigung der Arbeit durch die Polizei
ging der Fall an die Ermittlungskommission für weitere Ermitt¬
lungen, die, falls erforderlich, Polizei und FSB wieder heranzie¬
hen kann. In der Anklageschrift heißt es, dass er bereits früher
gegen das Verwaltungsrecht verstoßen habe und nun schuldig
geworden sei, weil er wieder die sogenannte „Spezialoperation“
kommentiert hatte. Falls jemand, der bereits aufgrund dessen
belangt worden war, innerhalb von 12 Monaten wieder etwas
schreibt, wird aus der Verwaltungsstrafsache eine Strafrechtssache,
erklärt Bilienko, und fügt hinzu: Man leidet dafür, sich über vom