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Sabine Haupt Menschen, oder: Die Macht der Bilder Da entstand ein gewaltiges Beben. Die Sonne wurde schwarz wie ein Trauergewand und der ganze Mond wurde wie Blut. Und die Sterne des Himmels fielen herab auf die Erde, wie wenn ein Feigenbaum seine Früchte abwirfi, wenn ein heftiger Sturm ihn schüttelt. So beschrieb Johannes im Exil auf Patmos seine apokalyptischen Visionen. Heute scheint die Sonne, wenn im Fernsehen apokalyptische Himmelsszenen gezeigt werden. Und es sind keine Sterne, die vom Himmel fallen, es sind Menschen. Bilder von Menschen, die aus brennenden Hochhäusern fallen, haben wir schon vor über zwanzig Jahren geschen. Diese Bilder gingen wochenlang um die Welt. Für immer haben sie ihre unauslöschliche Spur in unser Gedächtnis gegraben, das — so wissen wir nicht zuletzt durch Freuds „Notizen über den Wunderblock“ — für solche unauslöschlichen Eindrücke und Bilder schr empfänglich ist. Am 11. September 2001 waren es US-Amerikaner, die aus den brennenden Türmen des World Trade Centers stürzten. Kurz darauf besiegte die sogenannte „Nordallianz“ mithilfe des amerikanischen Militärs das ebenfalls mit Unterstützung der USA an die Macht gekommene Talibanregime in Afghanistan. Zwanzig Jahre später, am 15. August 2021 waren es Afghanen, die vom Himmel fielen, als sie versuchten, sich am Flughafen von Kabul an die letzten abfliegenden Maschinen zu klammern. Noch heute kursieren etliche Videos über diesen Horror im Internet. Es sind die immer gleichen, absolut schockierenden, unvergesslichen Szenen: junge Männes, die auf die Tragflächen klettern, schwarze, mit roten Kreisen markierte Punkte in einem strahlend blauen Himmel, eine aufgeregte und verzweifelte Menschenmenge, die den Herabstürzenden entgegeneilt. Wie groß müssen Angst und Schrecken sein, damit sich jemand an ein startendes Flugzeug klammert? Statt einer Antwort kommt mir eine ganze Kaskade weiterer Bilder in den Kopf: Hinrichtungsszenen, Enthauptungen, Erhängungen, Erschießungen, Bilder von entführten und vergewaltigten Frauen, Reportagen über Folter und Massenmord. Ich muss diese Bilder gar nicht mehr anschauen, um sie präsent zu haben, so tief haben sie sich in mein Gedächtnis gegraben. Als im Februar 2020 Donald Irump verkündete, die amerikanischen Truppen aus Afghanistan abziehen zu wollen und seinen entsprechenden Deal mit den Taliban in Doha besiegelte, war den wenigsten klar, was nun passieren würde. Ein knappes Jahr später kamen dann die ersten Berichte über verstärkte Kampfhandlungen zwischen Regierungstruppen und islamistischen Terrorbanden. Immer mehr nach Pakistan geflohene und dort ausgebildete Taliban drängten zurück ins Land. Kurz nach dem Beginn des Abzugs der NATO-Truppen erschienen in den Fernsehnachrichten die ersten Landkarten über das Vorrücken der Taliban. Sie kamen von allen Seiten und marschierten auf die Hauptstadt zu. Die eingeblendeten Karten veränderten sich mehrmals pro Tag, fast stündlich konnte man beobachten, wie die rot oder blau gefärbten Einflussgebiete der Taliban sich immer weiter ausbreiteten. Schon im April war die Universitätsstadt Masar-e Scharif im Norden des Landes umzingelt. Viele Intellektuelle, Schriftstellerinnen, Journalisten, Universitätsdozentinnen und Menschenrechtsaktivisten flohen nach Kabul, weil sie dachten, dort noch ein paar Monate sicher zu sein. Und sie begannen, intensiv nach Fluchtmöglichkeiten zu suchen. All das wusste ich, als uns am 7. Juni 2021 im Vorstand des Deutschschweizer PEN-Zentrums die „urgent request“ des jungen, afghanischen Publizisten Atiq Arvand erreichte. Er schrieb: Lama human rights activist, journalist and writer. The situation for me and some of my friends in Afghanistan is very bad. The withdrawal of NATO forces on the one hand and the growing threat from the Taliban and other religious armed groups on the other have made life very difficult for us. I do not know if'you can help me with this. My main demand is to leave the country immediately. Solche Hilferufe erreichen uns seit Jahren, nicht nur aus Afghanistan. Der internationale Schriftstellerverband PEN mit über 100 nationalen PEN-Zentren weltweit ist bekannt dafür, Petitionen für verfolgte Autorinnen und Autoren zu lancieren; und mit seinen „Writers in Prison“-Komitees setzt er sich auch konkret für inhaftierte KollegInnen ein, hilft im Exil lebenden AutorInnen. Aber um Fluchtmöglichkeiten und Asylverfahren kümmert er sich in der Regel nicht. Dazu fehlen ihm sowohl finanzielle wie auch humane Ressourcen. Doch als ich mir das Dossier von Atiq Arvand genauer anschaute, bemerkte ich, dass er nicht nur Autor und Journalist war, sondern auch Philosoph und Literaturwissenschaftler. Er unterrichtete an der Universität Kabul, gab verschiedene Zeitschriften heraus und unterhielt, gemeinsam mit Freunden und Kolleginnen, einen philosophischen Zirkel mit öffentlichen Vorträgen über Menschen- und Frauenrechte, Sozialismus, Medienpolitik u.v.m. Die Gruppe umfasste zwanzig bis fünfzig Personen. Sie nannten sich „Kabuler Straßenphilosophen“. Atiq war also in dreifacher Hinsicht ein Kollege: Schriftsteller, Universitätsdozent und Menschenrechtsaktivist. Ich beschloss, ihn und seine Frau Shabnam Simia, eine hochexponierte Staatsanwältin und engagierte Menschenrechtsaktivistin, die gerade ihren Job an einen Taliban getreuen Kollegen verloren hatte, in die Schweiz zu schleusen. Gemeinsam mit meinen Kollegen vom Deutschschweizer PEN-Zentrum organisierten wir eine kleine Vortragsreihe in Fribourg und Bern, zu der wir die beiden einluden. Um ein Schengen-Visum zu beantragen, mussten sie allerdings nach Islamabad fliegen, weil die Schweiz in Afghanistan schon seit Jahren keine diplomatische Vertretung mehr unterhält. Was nun folgte, ist gewiss eines der unglaublichsten und tollkühnsten Abenteuer meines Lebens. Denn der Visumsantrag, den Atiq und Shabnam auf der Schweizer Botschaft stellten, wurde nach einer Wartezeit von über drei Wochen schließlich abgelehnt. Es bestünde der „begründete Verdacht“, dass die beiden nach ihrer Vortragstournee in der Schweiz nicht wieder nach Afghanistan zurückkehren würden, hieß es lapidar auf einem vorgedruckten Zettelchen, das den beiden zum Abschied ausgehändigt wurde. MAI2023 11