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das beurteilen kann — den minimalen Entscheidungsspielraum, der ihnen von der rechtspopulistisch orientierten Schweizer Migrationspolitik gelassen wird, so gut wie möglich ausschöpften. Im Laufe der nächsten Wochen und Monate erhielten wir humanitäre Einreisevisen für 41 AfghanInnen, darunter 15 Kinder. Angesichts der beschämenden Statistik bei der Vergabe humanitärer Visen grenzt diese Zahl fast an ein Wunder, denn insgesamt vergab die Schweiz im gesamten Zeitraum des Jahres 2022 nur 98 humanitäre Visen an verfolgte Afghanen (bei 1683 Gesuchen), davon 41 allein an unsere Gruppe. Zur selben Zeit lancierte ich dann auch ein ziemlich aufwändiges Fundraising zur Finanzierung von Flugtickets, Visagebühren und Pässen aufdem Schwarzmarkt, bei dem Spenden von mehr als 70.000 Schweizer Franken zusammenkamen. Probleme mit meiner Bank gehörten dabei ebenso zum Alltag wie Probleme mit dem Rektorat meiner Universität. Im Mai erhielten 8 Gesuche eine negative Voreinschätzung, 5 Gesuche wurden genehmigt, 13 Visumsanträge von den Botschaften in Teheran und Islamabad abgelehnt. Gegen alle diese Ablehnungen legte ich im Juni Einsprache ein. In 5 Fällen wurde meiner Einsprache stattgegeben, wobei ich bis heute nicht begreife, nach welchen Kriterien diese Entscheidungen getroffen wurden. Denn die Gefährdungslage war in allen Fällen evident, nahezu gleich und sehr gut dokumentiert. Deswegen beschlossen wir im August, in den abgelehnten Fällen den juristischen Instanzenweg voll auszuschöpfen und — mit Unterstützung der Schweizer NGO AsyLex — Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht in Sankt Gallen einzureichen. Diese Gesuche sind dort immer noch hängig, gemeinsam mit zahlreichen anderen Anträgen von AfghanInnen, die zum Teil schon seit fast einem Jahr auf eine richterliche Entscheidung warten. Dieses Warten geschieht unter meist lebensbedrohlichen Umstanden, denn das pakistanische oder iranische Visum ist längst abgelaufen, eine Verlängerung nicht mehr möglich. Es droht Verhaftung, Gefängnis und Abschiebung nach Afghanistan. Viele Familien verlieren ihre Unterkunft, weil ihnen längst das Geld ausgegangen ist. Die meisten verstecken sich irgendwo im Iran oder in Pakistan, immer noch in der Hoffnung, dass die Schweizer Richterinnen und Richter endlich begreifen, dass Pakistan und der Iran keine „sicheren Drittstaaten“ für verfolgte Menschen- und FrauenrechtsaktivistInnen sind, wie das SEM bei seiner Ablehnung der Einsprachen die Chuzpe hatte zu behaupten. Inzwischen geht die Aktion über die Schweiz hinaus. 13 anderen AfghanlInnen, Familienangehörigen unserer AutorInnen, die nicht auf der Liste standen, weil sie selbst keine Schriftsteller sind, konnte ich helfen, Asyl in Deutschland und in Spanien zu erhalten. Weitere 38 können, wenn alles gut geht, ins neue deutsche Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan aufgenommen werden. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde zwar inzwischen kontaktiert, doch die definitive Entscheidung des Auswärtigen Amts steht noch aus. Vor allem ist noch völlig unklar, wie die verfolgten Kolleginnen und Kollegen, die sich alle noch in Afghanistan aufhalten, aus dem Land evakuiert werden sollen — eine ungeheure logistische, aber auch diplomatische und humanitäre Herausforderung. Leider ist der Weg nach Deutschland für diejenigen, die verzweifelt auf die Entscheidung des Schweizer Bundesgerichts warten, keine Option, weil sie Afghanistan bereits verlassen haben und - laut den aktuell geltenden, völlig absurden Bestimmungen des deutschen Aufnahmeprogramms — deswegen nicht berücksichtigt werden. Doch noch besteht ja die Hoffnung, dass es in der Schweiz zu positiven Gerichtsurteilen kommt, zumal die humanitäre Lage im Iran inzwischen auch den Richterinnen und Richtern aus Sankt Gallen bekannt sein dürfte. Sehr optimistisch gerechnet, könnten es also bald knapp hundert Gerettete sein, alles junge Leute zwischen 20 und 45, Schriftstellerinnen, Journalisten, Hochschullehrerinnen, Juristen und Ärztinnen, gut ausgebildete, politisch liberal denkende Intellektuelle, die in zehn oder zwanzig Jahren, wenn das Talibanregime und seine eventuellen fundamentalistischen Nachfolger endgültig kollabiert sind, gebraucht werden, um ein neues Afghanistan aufzubauen. Das wäre gewissermaßen die historische Dimension der ganzen Aktion. Denn wer soll das Land wieder aufbauen, wenn alle, die lesen, schreiben und klar denken können, ermordet sind? Manchmal werde ich gefragt, warum ich das alles mache. Es geht bei dieser Frage nicht um die Suche nach Rechtfertigungen oder um hochtrabende politisch-philosophische Begründungen, gefragt wird eher aus Neugier, menschlichem Interesse, Empathie, manchmal auch aus Verwunderung. Auch in den inzwischen recht zahlreichen Medienberichten über unsere Aktion steht oft die Frage nach meiner Motivation im Vordergrund. Denn das allgemeine Gefühl der Ohnmacht ist groß. Was tun angesichts der unerträglichen Bilder, der täglichen Berichte über unvorstellbare Grausamkeiten an Menschen, die zwanzig Jahre wie wir hier in Europa gelebt, gearbeitet, gedacht und gefühlt haben? Kein europäischer Intellektueller, kein Schriftsteller, keine Journalistin, keine Menschenrechtsaktivistin käme mit dem Leben davon, wenn es hier bei uns einen mit den Taliban vergleichbaren Faschismus gäbe. In den alteingesessenen NGOs herrscht weitgehend Resignation. So schloss das Schweizerische Rote Kreuz vor einem Jahr sogar seine Beratungsstellen für humanitäre Visen, weil die Anträge von den Behörden systematisch abgelehnt wurden. Was dagegen Mut macht, ist die Zivilcourage und das politisch-humanitärer Engagement von Einzelpersonen, oft von Frauen aus der Generation meiner (ebenfalls politisch und humanitär engagierten) Töchter: Carola Rackete, die als Kapitanin der Sea Watch 3 Matteo Salvini die Stirn bot, Theresa Breuer, die mit der Griindung von ,,Kabul Luftbrücke“ mehr Menschenleben rettete als so mancher europäischer Staat, Lea Hungerbühler, die Gründerin der Schweizer NGO AsyLex, ohne die es hier in der Schweiz kein Durchkommen gäbe im Dschungel der Asylverordnungen. Ja, warum mache ich das? Natürlich in erster Linie, weil es notwendig ist und weil ich geschen habe, dass es bei entsprechendem Einsatz auch gelingen kann. Das gibt Mut und Zuversicht für weiteres Engagement. Doch das ist nicht alles. Denn es gibt, in einer tieferen, auch sehr viel älteren Bewusstseinsschicht noch andere Bilder. Bilder, die mich seit der Kindheit verstören und zum Widerstand aufrufen. Es sind die Fotos und die Berichte aus den deutschen Konzentrationslagern, Zeugnisse des unvorstellbaren Grauens, das unsere Vorfahren, oft die eigenen Väter und Großväter zu verantworten haben. Hier ist jetzt nicht der Ort für spitzfindige jurisüsche und moralische Erörterungen der deutschen Kollektivschuld, es geht nicht um philosophische Prinzipien, sondern ums persönliche, durchaus auch widersprüchliche und wandelbare Empfinden. Natürlich habe ich als junge Frau die Bücher von Bernward Vesper, Brigitte Schwaiger, Peter Härtling, Christoph Meckel und anderen gelesen, der Boom der sogenannten „Väter-Bücher“ in der deutschsprachigen Literatur war damals auf dem Höhepunkt, alle sprachen plötzlich über das, was lange auf der Hand gelegen hatte, aber systematisch übersehen und tabuisiert wurde. Freilich kann und will ich mich nicht mit diesen MAI2023 13