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„Il popolo italiano - quando vuole - sa fare tutto“, steht auf der Fassade eines Hauses in Norma, auf der Hochebene der Lepinischen Berge, geschrieben: Das italienische Volk kann, wenn es will alles erreichen. Ist es möglich, die Assoziation zum faschistischen Italien, die sich auf Anhieb aufdrängt, zu sistieren und einen Ansatz zu finden, der so tut, als handelte es sich bei jenen Zeilen bloß um hochtrabende Worte eines anonymen, eifrigen Italieners, dem noch keine historische Identität zugeschrieben wurde? Wie kann ich mich an faschistoide Worte wie diese herantasten, kann man sie umschiffen und warum habe ich dieses Bedürfnis überhaupt? Es scheint mir unmöglich. Dennoch wage ich einen Satz lang den Versuch, Propaganda-Rhetorik außen vor zu lassen um Raum zu schaffen für eine neutrale Essay-Einleitung die vorgibt, die Worte genau jener Fassadeninschrift nicht bereits zu kennen: Glaubt man diesen großspurigen Worten, die alles und wiederum nichts bedeuten, die ein starkes bewegtes Italien im AnHug eines Hochgefühls ebenso wiedergeben wie den verdeckten Imperativ von dem wiederum schr konkretes Gefahrenpotential ausgeht und der möglicherweise den mediterranen Müßiggang als Dauerzustand, den es zu überwinden gilt, mitimpliziert, dann ist man gewillt, an die Steineichen ebenso zu glauben wie an die Edelkastanienwäldchen, die mich auf der Via Roccamassima von Segni über Cori und bis hierher nach Norma, südlich von Rom, begleitet haben. Das ist es also, was mir in den Sinn kommt, wenn ich die einzelnen Wörter italienisches Volk, alles und möglich, heraustrenne. Voreingenommen ist dieser Versuch trotzdem. Zurück zu den Fakten. 16 ZWISCHENWELT Der Bezug zu Mussolinis faschistischem Italien ist nicht von der Hand zu weisen: Die Aufschrift ist Benito Mussolinis Floskel entnommen, die mehrmals in seinen Reden propagiert wurde. Warum wurde das propagandistische Überbleibsel auf der Hausfassade in der Via del Corso in Norma nicht übertüncht? Für wen steht es da heute noch und wer von den heutigen Bürgern Normas weiß, was es mit diesen Worten tatsächlich auf sich hat? Zwei Häuser weiter steht die heruntergekommene Elementarschule, die der Mutter Benito Mussolinis, Rosa Maltoni Mussolini, gewidmet ist. In großen Lettern ist ihr Name auf Giebelhöhe eingemeißelt. Zu faschistischen Zeiten war Mussolinis Mutter Namensgeberin für unzählige Grundschulen gewesen, von Bergamo im Norden Italiens bis weit hinunter in den Süden. Rosa Maltoni selbst war Volksschullehrerin gewesen, eine ehrgeizige, ambitionierte, wie nachzulesen ist. Jene Form des Ehrgeizes also, der in der gegenwärtigen Nachbetrachtung negativer konnotiert nicht sein könnte, seit der Faschismus in Italien, zumindest oberflächlich betrachtet, Geschichte sein sollte. Aber vorerst zurück zur Via Roccamassima, der schmalen, von zahlreichen tiefen Schlaglöchern gezeichneten Hügelstraße zwischen Segni und Cori, wo einst die Volsker siedelten und den wunderbaren Herkulestempel hinterließen. Die Provinzidylle mit ihrem Landschaftsreiz muss sondiert geführt werden. Zu finden sind die Maronibäume in den schattigen Wäldchen der nördlichsten Begrenzung der Lepinischen Berge, der Monti Lepini, deren Landschaftsbild gleich hinter dem Örtchen Rocca Massima an griechische Hügelformationen denken lässt: Kahle, karstige Hänge, durchsetzt von Olivenhainen und Ginsterbüschen lösen die schattigen Edelkastanienwäldchen und Buchenhaine ab. Da und dort ragt eine wuchtige Steineiche aus dem trockenen Boden. Zartes Olivgrün und ausgedörrtes, braunes Gras heben sich von den fassgroßen weißen Steinen ab. Ein Vergleich mit griechischen