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Landschaftsformationen liegt nahe und doch befinde ich mich mitten in Italien. Schlicht Spazierweg nennt sich die schmale Nebenstraße auf der Hochebene, die dann bis Norma führt. Einheimische und Kenner der Gegend wissen die Via Passegiata als asphaltierten Spazierweg zu nutzen. Gehsteige oder Straßenbankette gibt es, wie in Lazio üblich, keine. Die Spaziergeher bewegen sich zu zweit und zu dritt nebeneinander auf der Fahrbahn, als wäre die kurvenreiche Straße ausschließlich für sie zugelassen. Wer verirrt sich schon hier herauf, auf die alte Querverbindung in den Monti Lepini, wo ich auf Anhieb in den Provinztaumel falle, wo einfache Pasta und hausgemachte Schweinswürste in der Trattoria so schmecken, als säße ich bei einem Degustationsmenü in einem Gault Millau Restaurant in Bologna? Es kommt eben auch auf das persönliche Sensibilisierungsbarometer an, auf den Grad der Schieflage, den man gewillt ist den eigenen politischen Tendenzen entsprechend, hochzuklettern. Ich bin entschlossen, in diesem einen Moment nicht auf meine vorgegebene politische Instrumentalisierung anzuspringen und mich wieder ganz der pittoresken Landschaft hinzugeben. Aber darf ich das denn? Kann ich es überhaupt? Oder bin ich einfach nur träge von der Mittagshitze, die sich bereits im Inneren des Autos festgesetzt hat, als würden weder Blechhaut noch Klimaanlage uns trennen? Noch hallt das dunkle Klirren der dickwandigen Espressotassen auf dem Marmortresen der Bar Centrale in meinen Ohren, ein Klang, der ausschließlich in einer italienischen Bar diesen unverkennbaren Ton erzeugen kann. Die Tassen sind aus dickwandigem Porzellan oder Steingut. Der Tresen besteht stets aus dickem Marmor, der Boden des Lokals ist mit echtem Terrazzo überzogen, der Grundriss der Bar langgezogen und schmal, die Rückwand mit den Regalen für Gläser und Tassen mit Spiegeln ausgekleidet. Nur dann durchdringt dieser eine dumpfe Klang die italienische Bar, die ein Stehcafe ist. Sehr laut und klirrend muss sich das Abstellen der dicken Espressotasse auf dem Marmortresen anhören. Für den hellen, lichten Klang dazwischen sorgt der Espressolöffel auf der Untertasse, während der Barista schon die nächsten Untertassen lauthals auf den Marmortresen knallt. Vielleicht muss auch die Luft ein wenig flirren von der Hitze, aber da wäre schon die Grenze zur Fantastik überschritten, eine Fantastik wie sie auch in Tommaso Landolfis wunderbaren Erzählungen über genau jene Landstriche im Süden Lazios beschrieben wird. Das ist für mich das Italien, das ich liebe: ein Klang, ein Ton, eine Farbschattierung. Aber darfman ein Land vorbehaltlos lieben für derlei hedonistische Anreize? Ich bin italophil. Laut Duden bedeutet das: Italien, seinen Bewohnern und seiner Kultur besonders aufgeschlossen gegenüberzustehen. Von all meinen Lieben ist die Liebe zu Italien die beständigste. Für keinen Menschen konnte ich je diese bedingungslose Hingabe aufbringen. Und kein mehr als umstrittener Politiker, kein Silvio Berlusconi, kein Giulio Andreotti, auch kein Matteo Salvini, nicht die desaströsen Infrastrukturen im Süden, nicht das desolate Gesundheitswesen oder die enorme Staatsverschuldung, ja nicht einmal die mafiösen Strukturen, die sich über das ganze Land ziehen, konnten diese meine Liebe für Italien bislang schmälern. Sobald ich das laute Klappern der dicken Espressotassen auf den Marmortresen in den Bars höre, ist es um mich geschehen. Vergessen sind dann die chaotischen Zustände in Roms Untergrundbahnen, vergessen sind all die Ticketautomaten, die entweder außer Dienst sind, oder keinen Geldschein, den man gerade dabeihat, annehmen, oder keine Münzen annehmen, oder keine Kartenzahlung zulassen, nachdem man mehr als eine halbe Stunde lang in der Schlange gestanden hatte, um überhaupt erst an den einzigen funktionierenden Automaten heran zu kommen. Dann trete ich entnervt, aber mit Liebe im Herzen, die schmutzige Treppe hinaufauf die Piazza, höre das Knattern der unzähligen Vespas, die nur in Italien diesen wohlklingenden Sound haben, während mir das Motorengeräusch der Mopeds in anderen Ländern in den Ohren schmerzt. Alles ist wieder gut. Gegen die Liebe sei kein Kraut gewachsen, allen politischen Begleiterscheinungen und darniederliegenden Infrastrukturen zum Trotz. Ich liebe das spätnachmittägliche Augustlicht auf den ockerfarbenen Renaissancefassaden in Bologna oder Ferrara, ich kann nicht anders, als das Zirpen der Zikaden anzubeten, nachmittags um drei, wenn ich unter dem Laubengang eines Palazzos sitze und hinausblicke auf die Piazza, während der schöne Terrazzo von Müll bedeckt ist. Der Duft der Pinien überdeckt den Gestank des Mülls, macht ihn unsichtbar. Kein Makel, der nicht von einer anderen Schönheit wieder aufgewogen wird. Und hier oben in den Lepinischen Bergen werden neben der herrlichen Landschaft auch noch die ciambelline, die typischen Weinkringel, zum cafe serviert. Aber diese bedingungslose, nicht weiter hinterfragte Hingabe macht auch Angst: Wie kann ich all die verheerenden Strukturen, die es in Italien gibt, ausblenden, während ich die frisch gebackenen Ciambelline mit Anis in den Espresso tauche, die die padrona höchstselbst aus der Küche bringt? Vielleicht, weil jede Liebe eine Anbetung ist an das rückgespiegelte Selbst. Vergessen sind die mit Löchern übersäten Landstraßen, vergessen sind Verfall und Ärmlichkeit in den engen Altstadtgassen von Segni und Cori, vergessen auch der Leerstand der schr alten Häuser aus Stein, vergessen die faschistische Inschrift an der Fassade in der Via del Corso. Ich ergebe mich ganz dem Landschaftsreiz, bestaune die Überreste der Zyklopenmauern am Rande von Norma. Hier oben am steilen Südabhang der Monti Lepini, direkt am Rand der markanten Geländckante, geht der Blick geradewegs hinunter zur Weite der Pontinischen Ebene - auf das ehemalige riesige Sumpfgebiet, das Mussolini unter Einsatz von Zwangsarbeitern in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts trockenlegen ließ. Senkrecht fällt die mehr als hundert Meter hohe Abbruchkante zur riesigen Ebene hinunter. An klaren Tagen schaut man oben vom Plateau über die glattgestrichene Ebene bis an die Ränder der Tyrrhenischen Küste. Das Großprojekt des Duce Das stark verbreitete Sumpfhieber (die Malaria, die von der Anopheles-Mücke übertragen wurde) sowie die harten Arbeitsbedingungen hatten Tausende Zwangsarbeiter dahingerafft während der Trockenlegung, die Benito Mussolini noch größer machen sollte. Viele Jahrhunderte lang waren die Pontinischen Sümpfe wegen der Malaria gefürchtet gewesen. Die Volsker, die hier schon vierhundert Jahre vor Christus siedelten, wussten (anders als ihre Nachfahren) mit den unten liegenden Sümpfen umzugehen. Sie nutzten ein ausgeklügeltes Kanalsystem, ließen weder Überschwemmungen freien Lauf, noch holzten sie die schützenden Wälder der Monti Lepini ab. Später war dieses Wissen verloren MAI2023 17