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gegangen, Klimawandel und Rodung in den Bergen ließen die Pontinische Ebene noch mehr versumpfen bis sie um 1900 schließlich gänzlich unbewohnbar geworden war wegen des medizinisch kaum behandelbaren Sumpfhiebers. Die Ansiedlungen der Volsker entstanden aus gutem Grund auf dem Hochplateau im Schutz der Berge, wo die Luft frisch war und auf den trockenen Böden, trotz der höheren Lage, Oliven, Edelkastanien und Obst kultiviert werden konnten. Mehr als achthundert Quadratkilometer Land warteten darauf, wieder urbar gemacht zu werden. Was die Volsker einst erfolgreich praktiziert hatten, wusste Mussolini viele Jahrhunderte später geschickt neu zu erfinden: Landgewinn für das Volk und gleichzeitig die Ausrottung der gefürchteten Malaria. Eine gigantische Schaubühne für das Prestigeprojekt des Duce bot sich hier. Denkt man an die Trockenlegung der Sümpfe, an das Ausheben des riesigen Kanals (kurz Canale Mussolini genannt) und der Errichtung der Planstädte wie Pontinia und Sabaudia, die in wenigen Jahren aus dem Boden gestampft wurden, muten die Eingangs festgehaltenen Worte noch spezifischer an: Il popolo italiano - quando vuole - sa fare tutto. Das italienische Volk - kann, wenn es will - alles erreichen. Es klingt wie eine Drohung. Make America great again — die Assoziationskette zur gegenwärtigen, populistisch geprägten Politik ließe sich endlos fortsetzen. Aber bleiben wir in Italien, rund sechzig Kilometer südlich von Rom. Für die faschistische Propagandamaschinerie ließ sich der Duce gern auf eine Schaufel gestützt, in einem der frisch ausgehobenen Gräben, abbilden: Seht her, ich euer Duce, sofern ich nur will, kann alles erreichen. Ihr, das italienische Volk, müsst es mir nur gleichtun! Zu welchem Preis dies geschehen sollte, war dem italienischen Volk durchaus bewusst. Rund 30.000 Bauern aus dem ebenso ärmlichen Friaul und anderen Regionen wurden nach der erfolgreichen Trockenlegung auf dem neu gewonnenen Land angesiedelt. Reibungsfrei gestaltete sich auch diese rigorose Umsiedelung damals nicht. Antonio Pennacchi berichtet davon in seinem Roman Canale Mussolini, der in der deutschen Übersetzung den Originaltitel beibehalten durfte. Pennacchi war als Sohn ausgesiedelter friaulischer Bauern in der Planstadt Latina geboren worden. In achteckiger Grundrissform gestaltet, hebt sich Latina im Gegensatz zu Sabaudia oder Pontinia mit ihren faschistischen Protzbauten im Stil des Rationalismus, mit einer bewusst bäuerlich gehaltenen Architektur ab. Jener Satz aus Mussolinis Rede ist noch immer an der Hausfassade in der Via del Corso im Stadtchen Norma abzulesen, dabei ist die faschistische Diktatur in Italien seit 1945 mit der Befreiung durch die Alliierten beendet worden (Mussolinis Absetzung erfolgte bereits 1943, seine danach ausgerufene Republik von Salo setzte sich bis zu seiner Hinrichtung an den letzten Kriegstagen — am 28. April 1945 — fort). Italiens faschistische Schreckensherrschaft mit ihren autoritären Strukturen und Restriktionen sollte seit langem der Vergangenheit angehören und auf der gegenwärtigen Politbühne obsolet geworden sein. Aber das ist es nicht ganz, genau so wenig wie das nationalsozialistische Gedankengut in Deutschland und Österreich auch nie ganz getilgt wurde und heute mehr denn je als nationalistische sowie populistische Grundidee in den Köpfen der sogenannten „heimatnahen“ Bürger wieder ungemein stark entflammt. 18 _ZWISCHENWELT Aber wie weit hat nun ein faschistoider Satz an einer Hausfassade in Lazio mit der Gegenwart zu tun? Ich versuche es mit einer Rekonstruktion, einer Art Beschwichtigung, weil ich in diesem Augenblick, an diesem berückend liebreizenden, wie ruinös geprägten Ort Norma gewillt bin, meinem politisch gestimmten Instrumentarium das Dolce far niente zu erlauben: Vielleicht wurde die Aufschrift vor langer Zeit schon aufgetragen, möglicherweise zwischenzeitlich übermalt, oder, sie wurde erst jüngst hier abgebildet, den gegenwärtigen Rechtstendenzen entsprechend. Weit gefehlt. Bei genauerer Betrachtung der Hausfassade stelle ich fest, dass die Aufschrift auf dem Originalputz angebracht ist, das Stück Fassade also wie ein museales Fresko sich von später aufgebrachten Putzschichten deutlich abhebt, während die restliche Fassade erst kürzlich restauriert und neu gestrichen wurde. Es wurde ganz bewusst bis ins Heute gebracht. Welche Vorstellung irritiert nun mehr: Dass der Duce-Sprech all die Jahre gewollt überdauert hat an dieser Fassade in der Via del Corso, oder die zuvor fälschlich gehegte Vermutung, dass entsprechend der aktuellen Rechtstendenzen die Inschrift erst jüngst hier angebracht wurde? In Zeiten großer Umbrüche (und solche durchlebt Italien, durchlebt Europa definitiv) ist der Schritt zur Wiederbelebung rechtsgerichteter Verschränkungen nicht weit. Im März 2018 hatte die Mussolini-Enkelin Rachele Mussolini im Wahlkreis Lazio für das italienische Parlament kandidiert, für die Rechtspartei Fratelli d'Italia (Brüder Italiens). Auf Facebook hatte Rachele Mussolini ihrem Großvater Benito an seinem Geburtsdatum posthum zum Geburtstag gratuliert, als „Ehrung und Wertschätzung“ wie sie sich rechtfertigte, und dafür einen Shitstorm geerntet. Rachele Mussolini ist nicht die einzige Politikerin aus dem familiären Dunstkreis des formaligen Duce. Ihre Halbschwester Alessandra Mussolini war 2014 für die Forza Italia zur EU-Abgeordneten gewählt worden und gegenwärtig amtiert Giorgia Meloni (ebenso Fratelli dTtalia) als erste weibliche italienische Ministerpräsidentin. Seit Matteo Salvini (mit mal mehr, mal weniger großem Zuspruch der italienischen Bevölkerung) offensiv die Zega (das „Nord“ aus Lega Nord ließ Salvini 2018 streichen) anführt, erlebte die Propaganda-Rhetorik ein trauriges Revival: Tanti nemici, tanto onore — viele Feinde, viel Ehre (viele Feinde, viel Zuspruch — wiirde ich persönlich übersetzen). Salvini hatte im Frühsommer 2018 Mussolinis Worte propagiert und dafür nur noch mehr Aufmerksamkeit geerntet in den Medien. Je offensiver in das rechtspopulistische Horn geblasen wird, desto mehr Applaus erntet letztendlich die Propaganda-Rhetorik. Macht durch Berichterstattung — erst diese macht den großen Sprung zur Massentauglichkeit bzw. zum Manifest möglich. Konstruktiver Journalismus abseits von Sensationsrhetorik ist in der gegenwärtigen Medienlandschaft ohnehin kaum vorhanden. Norma sei die hässlichste Gemeinde der ganzen Umgebung, kommentiert ein Ortsansässiger aufeiner regionalen Internetplattform: brutta e veramente disgustosa. Hässlich und wirklich abstoßend. Ein weiterer schreibt andernorts: Selbst Favelas sehen besser aus. Auf der Homepage der Gemeinde findet sich ein Versuch, die heruntergekommene Gemeinde etwas aufzuhübschen mit Poesie: Norma in Gedichten. Von den drei Gedichten, die beispielgebend angeführt werden, sei hier jenes eines Bürgers aus Norma zitiert: Wenn du ein Ideal hast, an das du glaubst, für das du kämpfst, nichts und niemand wird dich aufhalten können.