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Ich sche den Versuch über das Gedicht als gescheitert an. Bei den hier erwähnten Zeilen handelt es sich auch gar nicht um ein Gedicht, um Poesie, denn es wurde vom erwähnten Verfasser nicht er-dichtet oder ge-dichtet, hier wurde bloß eine Floskel wiedergegeben, eine Beschwörungsformel, die jeder bereits kennt. Dass diese als Gedichtzeile deklarierte Floskel wie die Verlängerung des faschistischen Ausdrucks auf der Hausfassade in der Via del Corso wirkt, ist nur eine von vielen möglichen Assoziationen, in diesem Fall möglicherweise eine falsche Schlussfolgerung: Das Gedicht ist seiner Frau und den Töchtern gewidmet. Die Widmung steht jedenfalls neben dem abgebildeten Buchumschlag. Es kommt eben auch immer auf das eigene Sensibilisierungsbarometer an. Ich bin entschlossen, in diesem einen Moment nicht auf meinen vorgegebenen Pfad der politisch korrekten Instrumentalisierung anzuspringen und mich wieder ganz der pittoresken Landschaft hinzugeben. Reiz und Anreiz, wie weit klafft beides auseinander? Weitere sinnbringende Rückschlüsse scheinen mir in diesem Augenblick, an diesem Ort, nicht möglich. Oder ist diese mir uneigene Versöhnungstendenz bloß der erbarmungslosen Mittagsträgheit geschuldet? Was könnte mir einer jener nicht jungen, aber auch nicht alten Männer sagen, die auf der Piazza Roma vor der Bar Caracas wie aufgefädelt entlang der Hauswand sitzen und den Zeitraum zwischen dem bereits beendeten Mittagsmahl und dem Wiederöffnen der Läden um fünf nachmittags totschlagen? Siesta. Vielleicht ist es an der Zeit, die vielen Fäden der eigenen Sensibilisierung zu entwirren, die sich im Laufe der letzten Jahre zu einem dicken Strick verknotet haben, und eine Auszeit zu nehmen von den Automechanismen der eigenen Sondierungsversuche. Wenigstens für diesen Moment nur die automatisierten Determinismen durchbrechen, zum Selbstzweck. Genuss. Ein Mal wenigstens unvoreingenommen Luft holen im beschaulichen Lazio, die Landschaft als Wirkungskreis akzeptieren, losgekoppelt vom politischen Impetus sich der Muse und dem Hedonismus hingeben. Der Klang der Espressotassen auf dem Marmortresen soll weiterhin vorbehaltlos den engen Raum der typischen Bar durchdringen. Und doch kann ich nur kläglich an diesem Versuch scheitern, der Propagandaspruch in der Via del Corso lässt mich nicht los. Einem engen Gässchen folgend gelange ich zu einer winzigen halbhohen Mauernische, direkt an der Geländekante gelegen und blicke in den senkrecht abfallenden Abgrund hinunter zur Pontinischen Ebene. Am Rande. Gänzlich. Aus dem Löss ragen riesige Kolonien von Kakteen mit ihren überreifen Feigen, schweben frei über der Kante, während sich ihre Wurzeln tief in die senkrechte Wand geschlagen haben. Niemand kann die reifen Früchte ernten, nur die Bienenschwärme sind im Stande, wie die Kakteen selbst, in luftigen Höhen zwischen Abgrund und Aufwind, der von der Ebene heraufbläst, zu bestehen. Von der Süße der pinkfarbenen, überreifen Früchte der Opuntia ficus-indica, die zur Kakteenart des Jahres gewählt wurde, profitieren einzig die Insekten. Vorne an der Piazza Roma, werden rote Wimpeln aufgehängt, Fahnen wie Fähnchen werden verteilt an die wenigen Passanten: Ferrari. Ein nervöser Wirt scheucht seine Kellnerbelegschaft in schlechtsitzenden Anzügen vor sich her im leerstehenden Restaurant. Wofür und für wen sollen sie zwischen den engen, aber leeren Tischreihen herumtraben? Norma scheint sich selbst nicht schr zu gefallen, mit oder ohne meine Wahrnehmungen und dem, was ich daraus schließe. Die Kommentare auf diversen Internetforen zeugen davon. Hätte das gegenwärtige Norma nicht die Ruinen des antiken Norba (die Reste einer Volsker-Siedlung) am Stadtrand zu bieten, nur schr wenige Nichtortsansässige würden die unzähligen Serpentinen hier herauffahren. Die Ansiedlung der antiken Stadt Norba mit den zum Teil erhalten gebliebenen Zyklopenmauern ist älter als Troja. Zwei riesige Pinien markieren den Haupteingang mit den antiken Mauerrtesten. Hier zeigt sich der Himmel über Norba bunt. Auf einer Wiese gleich neben den Ausgrabungsfeldern starten und landen unzählige Paragleiter, die von den idealen Aufwinden der unten liegenden Ebene profitieren. Eine Geländekante wie diese ist prädestiniert für Paragleiter. Viele Sportbegeisterte wissen die Gelegenheit und Thermik zu nutzen. Während wir auf den Treppelpfaden den Überresten des antiken Norba nachspüren, ziehen die Sportler mit den bunten Schirmen ihre letzten engen Schleifen über unseren Köpfen, kurz bevor sie auf der Wiese landen. Dann werden die Schirme akkurat gefaltet und zusammengerollt, in einem großen schweren Bündel, das antike Norba querend, bis zum Parkplatz hinüber geschleppt und im Kofferraum eines Kombis verstaut. Unten in der Ebene ist die kleine Anlage des Garten der Ninfea, il giardino Ninfa, zu erkennen — benannt nach dem antiken Nymphentempel. Der Fluss, der den Weiher speist, entspringt oben in den Bergen von Norba. Ich fahre die unzähligen Serpentinen hinunter, die zur chemaligen Sumpflandschaft führen. Unten in der Ebene empfängt mich das Gehupe eines nicht enden wollenden Ferrari-Corsos. Unzählige Oldtimer wie neueste Modelle reihen sich auf der schmalen Straße. Ich lenke das Auto auf das Straßenbankett, halte an, um die unterschiedlichsten Ferrari-Modelle ungehindert passieren zu lassen. Ist ja noch Zeit, ich habe es nicht eilig. Darauf also hatte man gewartet, oben in Norma! Wer wird den Corso in der verschlafenen Ortschaft in Empfang nehmen? Vielleicht die nicht jungen, aber auch nicht alten Männer, die seit Stunden vor der Bar Caracas entlang der Hauswand sitzen, an ihrem Grappa nippen und den faschistischen Propagandaspruch in der Via del Corso längst vergessen haben. Durch welche Lektüre ließe sich die gegenwärtige postfaschistische Realität Italiens besser vertreiben als jene des zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Autors Tommaso Landolfi, der nur einen Steinwurf von der Pontinischen Ebene entfernt 1908 im Hiigelort Pico Farnese geboren worden war? Die plattgestrichene Die Zyklopenmauer der Volsker MAI2023 19