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geschrieben hat. Er entstammte einer strenggläubigen jüdischen Familie aus Rumänien und genoss in seiner Jugend eine streng orthodoxe Erziehung. Weiters beinhaltet das Buch eine extensive Auflistung der zivilisatorischen Leistungen von JüdInnen für die Kultur, Literatur, Kunst und Wissenschaft. Es ist aber zunächst und vor allem eine schonungslose Abrechnung mit dem rassischen Antisemitismus, dem Nationalsozialismus und Adolf Hitlers Thesen in „Mein Kampf“. Dabei vergisst Irene Harand auch nicht auf die verheerenden Auswirkungen des christlichen und religiösen Antisemitismus hinzuweisen. In groben Zügen skizziert das Buch auch jene Folgen des Rassenhasses und des Antisemitismus, die später in den 1940er Jahren mit der Vertreibung, Beraubung und Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen dann tatsächlich eingetreten sind. Wie waren die Reaktionen der Öffentlichkeit auf das Buch? Vom NS-Kampfblatt „Der Stürmer“ wird Harand als Judenfreundin diffamiert und ihr unterstellt, das Buch nur geschrieben zu haben, weil sie Moriz Zalman „hörig“ und dessen Geliebte sei — was im Übrigen nicht der Realität entsprach. Aber auch von neutraler Seite wurde das Buch kritisiert: Harand wurde sogar vorgeworfen mit ihrem philosemitischen Aussagen zu übertreiben und die Leistungen von Juden in einem zu günstigen Licht darzustellen. Dies würde sogar dem Kampf gegen den Nationalsozialismus durch die starke Fokussierung auf den Antisemitismus schaden. “Ich bekämpfe den Antisemitismus, weil er unser Christentum schändet“ Irene Harand und die ‚Gerechtigkeit‘ Sprachrohr der Harandbewegung wurde die Zeitung „Gerechtigkeit“, die von September 1933 bis Mitte März 1938 wöchentlich erschien. Auf der Titelseite stand in jeder Ausgabe als Leitspruch: „Ich bekämpfe den Antisemitismus, weil er unser Christentum schändet“. Nach eigenen Angaben betrug die wöchentliche Auflage 30.000 Exemplare. Die Zeitung wurde durch Abonnenten und Spenden finanziert und nach halb Europa versendet. Das Büro der Harandbewegung und die Redaktionsräume befanden sich in der Elisabethstraße 20 im Ersten Wiener Gemeindebezirk. Irene Harand wollte mit der Zeitung ein publizistisches Gegengewicht zur Nazi-Hetzschrift “Der Stürmer“ schaffen. Es bestand auch der Plan, die Zeitschrift in anderen Sprachen erscheinen zu lassen: Eine polnische Ausgabe und eine französischsprachige Ausgabe mussten aber bald nach ihrem ersten Erscheinen eingestellt werden. Der deutsche Botschafter Franz von Papen (1879 — 1969) protestierte öfters beim Bundeskanzleramt gegen einzelne Artikel der Gerechtigkeit und verlangte ein Verbot der Zeitung. Neben der Lage im Dritten Reich war ein weiterer publizistischer Schwerpunkt die Aufdeckung des christlichen Antisemitismus in Österreich selbst. Die gläubige Katholikin Harand bekämpfte publizistisch die Veröffentlichungen des österreichischen Bischof Alois Hudal (1885 - 1963), der in Rom wirkte und ein sogenannter katholischer „Brückenbauer“ zum Nationalsozialismus war. Bekannt wurde er 1937 durch das Buch: „Die Grundlagen des Nationalsozialismus. Eine ideengeschichtliche Untersuchung.“ Berüchtigt wurde er nach 1945, als er mithalf NS-Kriegsverbrecher aus Deutschland und Österreich über die sogenannte „Rattenlinie“ nach Südamerika vor gerichtlicher Verfolgung in Sicherheit zu bringen. wurden oder wenn der christlich-soziale Politiker Leopold Kunschak (1871-1953) in der “Österreichischen Arbeiter-Zeitung“ regelmäßig gegen das Judentum hetzte Sonst aber stand Irene Harand ideologisch und realpolitisch dem österreichischen Regime nahe. Sie sah im Ständestaat ein Bollwerk gegen die drohende nationalsozialistische Machtübernahme in Österreich. Die „Harandbewegung“ war auch Teil der „Vaterländischen Front“. Sie selbst hatte beste Kontakte in legitimistische und konservative Kreise. Harand kritisierte die österreichische Sozialdemokratie dafür, dass diese nicht gemeinsam mit dem Austrofaschismus gegen den Nationalsozialismus kämpfte. International — besonders in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden, nahm man ihre Haltung in dieser Frage mit Unverständnis zur Kenntnis, was ihr dort auch an Reputation kostete. Bei den osteuropäischen Juden wurden Harand und die „Gerechtigkeit“ ganz anders wahrgenommen. Dort wurde ihre konsequente antinationalsozialistische und prozionistische Haltung geschätzt. Die „Gerechtigkeit“ gab vielen jüdischen Jugendlichen eine Perspektive und auch Argumente gegen den alltäglich erlittenen Antisemitismus in Polen oder Rumänien. So berichtet es zumindest Joseph Hausner (1919 - 2002), der im Jahr 1936 als 16-Jähriger zufällig in seinem rumänischen Heimatdorf eine Ausgabe der „Gerechtigkeit“ in die Hand bekam. Ihn faszinierte das Programm der Harandbewegung. 1937 werden er und ein Freund Mitglieder und verbreiten die „Gerechtigkeit“ in ihrem Heimatort. Mitte der 1960er Jahre — dann im New Yorker Exil - erfährt Hausner zufällig, dass Irene Harand ebenfalls in New York lebt. Er sucht sie auf, interviewt sie und schreibt an der New York University unter dem Titel „Irene Harand and the Movement against Racism, Human Misery and War, 1933-1938“ eine 1974 aprobierte Dissertation. Seine Aktivitäten in den 1960er Jahre und diese erste wissenschaftliche Arbeit werden die Grundlage sein, die zur internationalen Wiederentdeckung und Anerkennung von Irene Harand führen werden. Im Exil in den USA: Gerechte unter den Völkern - Vergessen in Österreich Anfang März 1938 befand sich Irene Harand in London und Paris. Franz Sobek (1903 — 1975), Beamter des Bundespressedienst im MAI2023 23