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Sieben-Achtel-Takt, Polka oder Walzer oder alles? Hat sie dabei Franz H. kennengelernt? 1909 — Marie ist gerade einmal 21 Jahre alt - stirbt ihre Mutter an Tbc. Ihre Eltern waren inzwischen nach Steinerkirchen an der Traun, einer Nachbargemeinde im Norden von Vorchdorf, übersiedelt. Im Mai 1912 heiraten Marie und Franz. Der Mai ist ein begehrter Monat für Trauungen. Allein an diesem Dienstag geben einander drei Paare in der Vorchdorfer Pfarrkirche das Ja-Wort. Marie wohnt zu diesem Zeitpunkt im Mühlgrubhäusl, unmittelbar an der Dürren Laudach im Ort gelegen. Das Haus gehört ihrem Großvater. Franz lebt zusammen mit seiner Mutter in einem kleinen Haus in der Ortschaft Eichham. Seine Familie stammte ursprünglich aus dem Innviertel und hatte das Bachmairhäusl gekauft. Marie zieht zu ihm und wird „Mitbesitzerin“. Es hätte eine glückliche Ehe werden können. Zehn Monate nach der Hochzeit erblickt die Tochter Maria Elisabeth das Licht der Welt. Im Frühsommer 1914 wird Marie zum zweiten Mal schwanger. Am 28. Juli 1914 unterschreibt Kaiser Franz Joseph in Bad Ischl — knapp 50 Kilometer von Vorchdorf entfernt - die Kriegserklärung an Serbien. Hunderte junger Männer aus dem Dorf ziehen ins Feld. Franz H., 29 Jahre alt, ist einer von ihnen. Im Jänner 1915 entbindet Marie einen Sohn: Franz Josef Maria. Bekommt Franz H. Heimaturlaub, um seinen Sohn sehen zu können? Vermutlich nicht. Das Infanterieregiment 59 liegt Anfang Februar 1915 in der Nähe von Krakau. Die russische Armee hatte die österreichischungarischen Einheiten weit zurückgedrängt. Am 2. Februar 1915 beginnen die Stellungskämpfe bei Janowice Dolne. Franz H. erleidet dabei eine schwere Verwundung. Drei Wochen später stirbt Maries Sohn an Fraisen. Maries Bruder Josef scheidet im Oktober 1918 in einem Lazarett in Albanien aus dem Leben. Franz H. wird den Krieg überleben, aber er wird ein anderer sein. Als „sehr aufgeregt“ beschreibt ihn Marie. Von den Folgen eines „Kopfschusses“ berichtet sie. Vom Schreien ins Weinen, an vielem verzweifelt er. Wo ist sein Lachen geblieben? Franz H. schlägt sich als Hilfsarbeiter durch. Marie bewirtschaftet das kleine Grundstück. Wie schafft das Marie? Spaziert sie manchmal hinüber nach Pappelleiten, setzt sich an das Ufer des Almflusses und erinnert sich an ihre Kindheit? Weint sie sich bei ihrer Tante und Patin Magdalena aus? Beten sie gemeinsam? Magdalena gehört dem 3. Orden des Hl. Franziskus, einem weltlichen Orden, an?. Sie war 25 Jahre älter als die Mutter von Marie. Zunehmend gebrechlich zieht sie ins Haus in Eichham ein und wird von Marie gepflegt. 1930 stirbt sie. 1935 endet das „lange Leiden“ ihres Ehemannes Franz. „Magenkrebs“ findet sich im Sterbebuch als Todesursache eingetragen. Am 1. Jänner 1938 wird Marie N. 50 Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt wohnt sie mit ihrer inzwischen volljährigen Tochter Maria Elisabeth und ihrer pflegebedürftigen 82-jährigen Tante Elisabeth in dem kleinen Haus, welches noch mit Stroh gedeckt ist. Die Tante wird im August 1940 beerdigt werden. Marie N. wird nicht am Grabe stehen. 32 _ ZWISCHENWELT Ich stelle mein Auto am Parkplatz der Brauerei ab. Kurz darauf queren wir zu Fuß die Dürre Laudach: ORF-Wanderweg ist auf Wegtafeln vermerkt. Nach einem leichten Anstieg beginnt Eichham. Fünfzehn Häuser zählte die Ortschaft um 1900: EIf Bauerngüter und vier kleine Häuser (Häusl oder Sölden genannt). Heute sind es mehr als 50. Vor dem Haus mit der Nummer 3 bleiben wir stehen. Das alte Haus sei in den 1990er Jahren abgerissen worden und dreißig Meter weiter westlich neu errichtet worden, erklären mir Freunde. Ich stelle mich an den alten Platz und blicke südwärts. Was hat Marie geschen, wenn sie morgens aus dem Haus trat? Einen großen Vierkanthof mit neunzehn Fenstern an der Vorderfront, umringt von Obstbäumen. Ihr Häusl hatte ganze vier Fenster an der Südfront, und zwei an der Ostseite. Wo der Traunstein liege, frage ich. Meine Freunde deuten nach Südwesten. Tiefliegende dichte Wolken verbergen ihn. Stattdessen sche ich nur einen Nadelwald, davor eine Starkstromleitung und ein umgeackertes Feld. Ich wende meinen Kopf nach Osten. Zwei Bauernhöfe befanden sich hier zu Maries Zeiten. Dahinter fällt die Böschung steil ab zur Dürren Laudach. Früher habe diese stark mäandert, sei hin- und hergewandert. In den 1970er Jahren sei sie begradigt worden. Der kleine Fluss trennt Eichham von Seyrkam. An einer aufgestauten Stelle habe er schwimmen gelernt, erklärt mir Hannes. Konnte Marie schwimmen? Am 6. Juli 1939 wird sich das Leben von Marie drastisch ändern. Festgegurtet auf einer Tragbahre und in eine Zwangsjacke gekleidet, wird die „Häuslerin“ in die „Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke Niedernhart“ eingeliefert. Ihr Körper wird als „untermittelgroß, schmächtig“” und ausgezehrt, ihre Zähne als „sehr defekt“ beschrieben. Ihr psychischer Zustand wird beim Erstgespräch als ruhig, klar, geordnet, gibt bereitwillig Auskunft ist in jeder Weise gut orientiert, zeigt keine auffallende Störung der Intelligenz und Merkfähigkeit angegeben. Im Attest des einweisenden Arztes wird von „Inspirationen“ berichtet, sie sche Vorgänge bei Nachbarshäusern, die in Wirklichkeit nicht vorhanden seien, vernachlässige die Landwirtschaft, bedrohe Mitmenschen, ging mit einem Messer auf ihre Tochter los. Bete ... stundenlang ... laut schreiend ... nachts. Da der Zustand in letzter Zeit so arg ist, dass die Frau als gemeingefährlich erscheint, ist die Abgabe in eine geschlossene Abteilung unbedingt nötig. Die Halluzinationen bestreitet Marie. Seit einem Jahr gebe es mit der Tochter heftige Konflikte. Diese wolle einen 15 Jahre älteren Mann heiraten, einen schlecht beleumundeten Witwer. Dass sie gebetet habe, gibt sie zu, aber geschrien habe sie dabei nicht, sie habe nur darum gebetet, dass die Tochter diesen ... lasse. Das mit dem Messer erklärt sie: Sie habe zufällig bei einem Streit das Tischmesser in der Hand gehabt. Am 25. Juli 1939 wird mit der Therapie begonnen. Konvulsionstherapie! steht mit Hand geschrieben oben am Patientenakt, eine damals gängige Behandlungsmethode. Elektroschocks in der Dauer von 42 bis 55 Sekunden, genau protokolliert, elf Behandlungen im Zeitraum eines Monats. Ende September wird ihre Anhaltung in einer geschlossenen Anstalt für drei Monate beschlossen. Begründung: Marie N. ... leidet an einer Geisteskrankheit paranoiden Charakters mit Aufregungszuständen. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit dem Klimakterium.