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Die Eintragungen im Akt Nr. 15.375 nehmen zu. War in der Nacht störend durch halblaute Selbstgespräche führt leise Selbstgespräche Ermahnen war nutzlos auf ofimaliges Zureden doch wieder ruhig führt sehr viele Selbstgespräche, manchmal leise, dann aber auch wieder sehr laut und störend spricht über religiöse Dinge bekam eine Injektion, war dann bald ruhig schreit aus Leibeskräften Lobend wird erwähnt, dass sie sich mit Stricken beschäftigt. Was strickt sie? Eine Weste für die kalten Winter im Almtal? Von Socken wird berichtet. Immer wieder strickt sie, ... macht es sehr gut. Ende Dezember 1939 wird die Anhaltung in einer geschlossenen Anstalt für ein weiteres Jahr für zulässig erklärt. Die Aufzeichnungen werden weniger. Sie halluziniere sehr viel spreche mit nicht anwesenden Verwandten höre Stimmen, müsse für kurze Zeit isoliert müsse manchmal isoliert werden müsse öfters isoliert werden höre viel Stimmen, gibt ihnen ständig Antwort werde auch sehr derb, wenn man ihr sagt, sie solle ruhig sein Die Verabreichung von Beruhigungsmitteln nimmt zu. Ende Februar 1940 wird Marie mit Beschluss des Bezirksgerichtes Gmunden entmündigt. Entscheidend sind ein ärztliches Gutachten und die Aussagen von Dr. Franz Z. und Josef G. Das Gutachten bescheinigt ihr eine Geisteskrankheit mit Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen sowie, dass sie selbst- und gemeingefährdend sei. Der Gemeindearzt Dr. Z. und Josef G. führten an, dass Marie N. „bis vor etwa 2 Jahren ganz normal“ gewesen sei. Seither litt sie zunehmend an Wahnvorstellungen, fühlte sich von anderen Menschen verfolgt, der Teufel stelle ihr nach. Von einer Heugabel, mit der sie ihre Tochter bedrohte, ist die Rede. Der Ortsbauernführer G. wird zu ihrem Kurator bestellt. Die letzte Eintragung in den Krankenakt stammt vom 2. Juli 1940: Hört viel Stimmen, gibt ihnen beständig Antwort, schreit oft den ganzen Tag lang, alles Zureden hilft nichts, Nahrungsaufnahme gering. Auch in der Nacht öfters laut und störend. Am 31. Jänner 1941 fährt ein Bus vor. Marie N. und eine Gruppe anderer Insassen steigt ein. Sie werden in ein anderes, ein schöneres Heim überstellt, wird ihnen mitgeteilt. Draußen scheint die warme Frühlingssonne, eine Gruppe von SchülerInnen wartet im Hof auf ihre Führung. Mich fröstelt im Karl-Markus Gauß Inneren des Erdgeschosses. Zuerst seien sie fotografiert worden, von vorne, eine Profilaufnahme und eine Ganzkörperaufnahme.® Ich betrete den nächsten Raum. Sie würden gebadet, war ihnen gesagt worden. In der Regel wurden 30-60 Menschen in die Kammer, die erwa 25 Quadratmeter groß ist, gepfercht. Der Raum ist leer: Von den sechs Brauseköpfen und den Holzbänken, die die Illusion eines Brausebades vermitteln sollten, ist nichts mehr zu sehen. Kahle Wände sprechen zu mir. Hat sich Marie N. gefreut auf das Bad, oder haben ihre Stimmen sie gewarnt und hat sie versucht, sich zu wehren? Das Gas kam aus den Rohren, die die Wände entlang am Boden verliefen. Marie Hartwagner wurde im Rahmen der Aktion T4 in der Tötungsanstalt Hartheim ermordet. Vor der Pfarrkirche in Vorchdorf steht ein Denkmal für die „Helden“. Darauf wird Maries Bruder Josef Radner und 99 anderen Toten des Ersten Weltkrieges gedacht. Wo wird an die Frauen erinnert, die im Rahmen des Euthanasie-Programmes 1939 -1941 umkamen? Erstveröffentlichung in: Die Rampe (Linz) 422 Anmerkungen 1 Schwarzelmüller Rudolf „Vorchdorf Ein Heimatbuch für Schule und Haus“ Vorchdorf 1959, S. 343 2 In den Matriken der Pfarre Vorchdorf findet man sie als Maria. Erst in späteren staatlichen Dokumenten wird sie als Marie bezeichnet. Ich verwende den Namen Marie: Er gefällt mir besser. 3 Huber Waldemar. Der Bauer und sein Gut: Eine historische Entwicklung von den Anfängen bis zu den Erbhöfen. In: Marktgemeinde Vorchdorf. Vorchdorf 2000 Ein Lese- Schau- und Hörbuch. Vorchdorf 1999, S. 223-265 4 Diese und folgende Zitate stammen aus den Matriken der Pfarre Vorchdorf. 5 Dieser Laienorden war in der Zeit um 1900 in Vorchdorf und Umgebung sehr verbreitet. In einer Eintragung der Pfarrchronik von 1901 wird von beinahe 300 Mitgliedern berichtet. 6 Quelle: Totenbild Franz H. 7 Dieses und die folgenden Zitate stammen aus dem Akt Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke Niedernhart St. Prot-Nr. 15.375 8 Siehe dazu: Kepplinger Brigitte, Marckhgott Gerhart, Reese Hartmut: Tötungsanstalt Hartheim 3. Auflage Linz 2013. Milo Dor hat einmal mit Witz und Wut beklagt, der einzige österreichische Schriftsteller zu sein, nach dessen Vornamen zwar in Kreuzworträtseln gefragt werde, dessen Romane aber dennoch nach jeder Neuauflage wieder vergessen würden. Daran hat sich bis heute nichts geändert, der „Patriot der Wiener Josefstadt“, der am 7. März vor hundert Jahren in Budapest geboren wurde und in Belgrad aufwuchs, ist immer noch ein bekannter Name und ein Romancier, dessen Werk es erst zu entdecken gilt. Der Zufall will es, dass sein Freund und Weggefährte Reinhard Federmann nur kurz vor ihm zur Welt kam, am 12. Februar 1923, und daher im Winter 2023 des 100. Geburtstages zweier Autoren zu gedenken ist, die in den fünfziger Jahren, um zu Geld zu kommen, übrigens eine Reihe von schnell hingeschriebenen Kriminalromanen gemeinsam verfertigt haben. Vor allem aber teilen sie das Schicksal, dass sie mit ihren besten Werken eine kritisch-realistische Literatur verfassten, die es den ofliziösen Legenden der österreichischen Literatur zufolge gar nicht gegeben hat: Dors Roman „Tote auf Urlaub“ von 1952 und MAI 2023 33