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Reinhard Federmanns „Himmelreich der Lügner“ von 1959 setzen sich auf künstlerisch ambitionierte und politisch kompromisslose Weise mit der jüngsten Vergangenheit, mit Austrofaschismus und Nationalsozialismus, mit Folter, Vertreibung, Holocaust auseinander. Und sie attackieren das große Vergessen, das in den Jahren des Wiederaufbaus zur gemeinsamen Staatsdoktrin der politischen Gegner von gestern wurde und das Schweigen über so viele Verbrechen, über Verstrickung und Verleugnung einschloss. Zäh hält sich jedoch das Klischee, dass es erst die Wiener Gruppe war, die literarisch mit der autoritären Vergangenheit brach und der nationalen Verdrängung ihre radikale Kritik entgegensetzte. Ich möchte der Wiener Gruppe — und etlichen Autoren, die in ihrem weiteren Umfeld begannen — keineswegs die literarische Bedeutung absprechen; ich muss mich hüten, sie schlichtweg mit ihren Hagiographen von heute zu identifizieren, die die Vielfalt der österreichischen Literatur jener Jahre schlichtweg nicht zur Kenntnis nehmen wollen und sich mit den Legenden zufrieden geben, die einzelne Repräsentanten der Wiener Gruppe von sich in die Welt gesetzt haben. Diese Sicht auf die österreichische Literatur ist das Ergebnis einer Verdrängung. Sie negiert Autoren und Autorinnen wie Otto Basil, Walter Buchebner, Gerhard Fritsch, Michael Guttenbrunner, Marlen Haushofer, Friedl Hofbauer, Franz Kain, Hertha Kräftner, Georg Kreisler, Hans Lebert, Mira Lobe, Friederike Manner, Alexander Sacher-Masoch, George Saiko, Karl Wawra, Susanne Wantoch, Herbert Zand und zahlreiche andere; gar nicht zu reden von den ins Exil gejagten und nie heimgekehrten, nie zur Rückkehr aufgeforderten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die sich, wohin immer sie sich gerettet hatten, in ihrer Literatur mit Österreich, seinen demokratischen Traditionen und der faschistischen wie der nationalsozialistischen Ära beschäftigten, von A wie H.G.Adler, Jean Amery, Alfredo Bauer bis zu Z wie Hermynia Zur Mühlen. Wer auf diese Verdrängung hinweist oder das groteske Zerrbild der österreichischen Literatur kritisiert, der macht die peinlichsten Erfahrungen. So dürftig kann dieser Kanon gar nicht sein, dass er nicht gleichermaßen wütend wie ahnungslos verteidigt werde. Darin waltet eine Seligkeit des methodischen Vergessens, die die Seligen in routinierter Entrüstung der österreichischen Gesellschaft gerne selbst vorzuhalten pflegen. (Das hat, nebenbei angemerkt, seine Entsprechung in der Bildenden Kunst, in der heute ein spezifisch österreichischer Mythos der Moderne gepflegt wird, als hätte es nach dem Krieg außer der von Monsignore Mauer geförderten abstrakten Malerei nur die in einem ewigen Biedermeier verhaftete Kunst von Pinselwichten gegeben; bis dann endlich der überfällige, befreiende Durchstoß erfolgt wäre, in Gestalt der Wiener Aktionisten, die in Wahrheit doch weniger die autoritären Traditionen attackierten, als diesen in ihrem sprachlosen Aufstand einige neue Elemente hinzufügten. Übrigens: Wie viel freier, freigeistiger als die brachialen Männer gingen es in ihrem artistischen Spiel die lange Zeit kaum beachteten Frauen an, von Birgit Jürgenssen bis zu Kiki Kogelnik! Milo Dor war als Mitglied einer Widerstandsgruppe in Belgrad von der Gestapo verhaftet, gefoltert und zur Zwangsarbeit nach Wien verfrachtet worden. Er blieb in der Stadt, in die er nicht aus freien Stücken gekommen war und zu der er doch eine Liebe entwickelte, von der er einmal sagte, sie sei „wie eine Krankheit“. Sein erster, bereits auf Deutsch verfasster Roman, „Tote auf Urlaub“, müsste, wenn es mit dem literarischen Kanon seine Ordnung hätte, als der große Roman des Widerstands gelten. Aber selbst die Neuauflage im Otto Müller-Verlag hat ihm 1992 nicht jene Leserschaft und 34 _ ZWISCHENWELT Würdigung eingetragen, die ihm gebührten. Dass dieser in die Folterstätten des Nationalsozialismus hinabtauchende Roman in den Jahren des Wiederaufbaus nicht entsprechend gewürdigt wurde, mag nachträglich nicht verwundern. Sogar der Zuspruch im Kalten Krieg, der bekanntlich nicht nur zwischen zwei politischen Systemen, sondern innerhalb der beiden Systeme vehement auch gegen die jeweiligen Oppositionellen geführt wurde, hat diesem Werk damals wohl eher geschadet als genützt. Man bedenke, dass Hans Weigel den Verfasser von „Tote auf Urlaub“ mit den Worten vorstellte, es handle sich bei ihm um einen „reuigen Sünder“; 1952 meinte Weigel damit nicht etwa einen zur Besinnung gekommenen Mitläufer, Mittäter des Nationalsozialismus, sondern einen Menschen, der im Kampf gegen den Nationalsozialismus sein Leben riskiert, sich aber in der politischen Illegalität peinlicherweise mit den Kommunisten verbündet hatte. Dass „Tote auf Urlaub“ auch von der nachfolgenden Generation nicht als Schlüsselwerk entdeckt wurde, zeugt hingegen schlichtweg davon, dass sie, die mit der Kritik ihrer im Niederreißen und Wiederaufbauen so tüchtigen Väter antrat, deren Talent zur Vergesslichkeit geerbt hatte. So weit ich es übersche, war es von den um 1968 angetretenen Autoren einzig Michael Scharang, der diesen antifaschistischen Roman und übrigens mehrfach auch dessen Verfasser gewürdigt hat. Doch welchen Typus von Schriftsteller verkörperte der vorgeblich konservative Dop, als er in einem ihm fremden Land, in einer ihm fremden Sprache zu schreiben begann — und sich dem literarischen Stillhalteabkommen jener Jahre sogleich widersetzte? Für den jungen Dor gilt, was auch der alte von sich behaupten konnte: Niemals in seinem Leben hatte er sich in eine Anstellung begeben, in einem geregelten Arbeitsverhältnis befunden, auch in den Jahren des Erfolgs lebte er daher in ungesicherten Verhältnissen. Um 1950 war seine materielle Lage so schlecht, dass er seine Übersiedlung nach Deutschland plante, wo er auf Verlage, Rundfunkstationen, Zeitungen, Buchhandlungen setzte, die der kritischen Literatur, die er schrieb, womöglich größere Aufmerksamkeit entgegenbringen würden. Aus der dauerhaften Übersiedlung wurde nichts, denn Dor war, wie er Jahrzehnte später einräumte, jener Stadt, in die er einst als Zwangsarbeiter gekommen war, verfallen: „Ich kehre aus allen Richtungen immer wieder nach Wien zurück.“ Darum hat er zu Zeiten, in denen von einer sozialen Absicherung der Schriftsteller noch keine Rede sein konnte, unerhört viel publiziert, Romane, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Drehbücher, Sachbücher, Übersetzungen, Anthologien, Zeitungskommentare, Glossen und Feuilletons, Vor- und Nachworte, und so wie bei seinem Freund Federmann, der zahllose Auftragsarbeiten annahm, um über die Runden zu kommen, war auch bei ihm manche schnell verderbliche Alltagsware dabei. „Jote auf Urlaub“ hat er später freilich mit zwei bedeutenden Romanen zu einer Trilogie erweitert, der er den Obertitel „Die Raikow-Saga“ gab. Im zuerst erschienenen Mittelteil „Tote auf Urlaub“ geht es um den Belgrader Gymnasiasten Mladen Raikow, der in die Fänge der Gestapo gerät und in der Haft von seinen kommunistischen Genossen verraten wird. In den anderen Bänden erzählt Dor die Vorgeschichte und die weitere Entwicklung des Geschehens, wobei er jeden der drei Teile stilistisch und formal auf ganz andere Weise gestaltet hat. „lote auf Urlaub“ verstößt in der protokollartigen Anhäufung von Szenen des Gräuels nicht nur gegen erzählerische Konventionen, sondern auch gegen echte Schmerzgrenzen der Leserschaft. Demgegenüber entfaltet „Nichts als Erinnerung“ (1959)