OCR
die Vorgeschichte in einem breiten Gemälde, das drei Generationen der pannonischen Familie Raikow nebeneinander stellt und in ihren Porträts die Signaturen einer Epoche im Umbruch aufdeckt. Eingebettet in jene „Landschaft feuriger Melancholie“, die Dor als die seine erkennt, bringt der Roman es zuwege, die alte Welt sowohl in ihrer Schönheit und Würde, als auch in der Unausweichlichkeit ihres Untergangs zu zeigen. Das abschließende Stück der Trilogie, „Die weiße Stadt“ (1969), führt in die Ära des beginnenden Wohlstands herauf. Der Faschismus ist besiegt, doch besiegt sind auch jene, die mit ihren Idealen und ihrem Leben für den Kampf gegen ihn einstanden. Alles andere als ein Sieger ist Mladen, der Folter und Zwangsarbeit überlebte und nun heimatlos durch die Prosperität des Nachkriegs irrt. Das Geschehen ist aufgesplittert, die Chronologie aufgehoben, die Perspektive wechselt unruhig, einzelne Partien verselbständigen sich, und Dor entwirft verschiedene, allesamt wieder verworfene Möglichkeiten, wie es mit Mladen weitergehen könnte: Was bleibt dem Belgrader Jüngling von einst, der Dichter werden wollte und als Widerstandskämpfer in der Zelle landete, was bleibt dem jetzt Vierzigjährigen zu tun, der kein Toter auf Urlaub mehr ist, sondern ein Überlebender auf Abruf? Reinhard Federmann hat fünf Romane veröffentlicht, „Das Himmelreich der Lügner“ ist nun mit einem exzellenten Nachwort von Günther Stocker neu aufgelegt worden. Der Roman spielt in den Jahren von 1933 bis 1956. 1933 geht die Regierung Dollfuss planmäßig daran, die Demokratie in Österreich zu beseitigen, die organisierte Arbeiterbewegung zu zerschlagen und einen Faschismus spezifisch österreichischer Prägung zu errichten. 1956 wiederum wird in Ungarn der Aufstand gegen das kommunistische, Moskau ergebene Regime blutig niedergeschlagen. Federmanns Roman prangert nicht allein den „deutschen“ Nationalsozialismus an, was in der österreichischen Literatur öfter geschah, sondern auch den „österreichischen“ Faschismus des Ständestaates, der nur selten thematisiert wurde. „Das Himmelreich der Lügner“ ist ein Versuch über Politik und Macht, über die Verbrechen des Faschismus, die blutig zerstörte Hoffnung des Kommunismus, über den Kalten Krieg und die Besatzungszeit, und dabei überschneidet der Autor souverän das persönliche Schicksal seiner Protagonisten mit den historischen Ereignissen. Bruno Schindler, der desillusionierte Ich-Erzähler, ist immer wieder besiegt worden — jetzt, Ende der fünfziger Jahre, will er rückblickend Rechenschaft ablegen. Er vergegenwärtigt sich, wie die Erste Republik zerstört wurde, er erinnert sich an seinen später ermordeten jüdischen Freund, der von illegalen Nationalsozialisten zusammengeschlagen wurde und bereits 1933 vor dem österreichischen Gericht keine Chance hatte, Gerechtigkeit zu erlangen. Im Februar 1934 wollte Schindler die Demokratie verteidigen, mit der Pistole in der Hand irrte er durch Wien und musste erkennen, dass der Aufstand von den sozialdemokratischen Führern viel zu lange hinausgezögert wurde und jetzt keinen Erfolg mehr haben wird. Es gelingt ihm, in die Tschechoslowakei zu Hüchten, und von dort macht er sich auf in die Sowjetunion. Er wird Kommunist, an die Front geschickt, kehrt 1945 mit der Roten Armee in seine Heimatstadt zurück. Und fühlt sich nicht als Sieger. Denn er findet ein Land vor, in dem keiner schuld sein und jeder seine Ruhe haben will. Der Bevölkerung als „Russenknecht“ verhasst, den Genossen als unzuverlässiger Individualist verdächtig, beobachtet er genau, wie sich in seiner Heimat die Täter von gestern als Opfer aufzuspielen beginnen und im Reich Stalins der Terror herrscht. Er bricht neuerlich auf, geht als Journalist in die Welt und kehrt erst 1956 zurück. Was hat Schindler in dieser Stadt zu suchen, in dem ein Genosse von früher, der zu den Nazi übergelaufen war, nun als Geschäftsmann das große Geld macht? In der weinselig die Kontrahenten von gestern beim Heurigen auf die gute neue Zeit anstoßen? Ihre Aussöhnung wäre ja nichts Schlechtes, sie ist sogar eine nationale Notwendigkeit, ohne die es mit der Demokratie im Lande nichts werden kann. Aber was sie einander abringen, ist ein opportunistischer Scheinfrieden, eine echte Aussöhnung hätte es nur geben können, wenn die Konflikte von einst angesprochen, über den Bürgerkrieg nicht das große Schweigen verhängt und das, was geschehen ist, nicht vertuscht worden wäre. Während ringsum alle ihre Vorbereitungen für den Weihnachtsabend 1959 treffen, erkennt Schindler, dass er in seiner Heimat ein Fremder ist. Noch vor „Himmelreich der Lügner“ erschien von Federmann, einem rastlos, wie gehetzt arbeitenden Autor, 1950 ein Roman, den es dem einsinnigen Bild von der österreichischen Literatur zufolge ebenfalls gar nicht geben dürfte. Denn es handelt sich bei „Chronik einer Nacht“ um ein hervorragendes Beispiel jener „Literatur des Kahlschlags“, die gemeinhin als deutscher Sonderfall gilt, dem sich in Österreich nichts Vergleichbares zur Seite stellen lässt. Tatsächlich leistet Federmann in diesem Genre ausgesprochen Originelles. Er führt einen Emigranten in das zerstörte Wien von 1948 zurück und zeigt beklemmend, wie es die materielle Bedrängnis den Wienern erleichtert, sich gedächtnislos als die wahren Opfer des Krieges und der Nationalsozialisten, die allesamt „Preußen“ waren, zu empfinden. Auch in den zehn Erzählungen, die er zu dem Band „Die Stimme“ vereinte, bilden Krieg und Nachkrieg den Rahmen, in dem sich diese Geschichten von Schiebern und Schleichhandlern, Kriegsversehrten und Soldatenwitwen entfalten. Hintergrund ist eine Gesellschaft, die ein moralisches Anrecht auf das Vergessen zu haben meint: ,,Es geht uns jetzt besser, wir wollen nicht mehr dran denken, wir benehmen uns auch wieder ganz tadellos, und wir wollen lieber hören, wie es sein wird, wenn es uns noch viel besser geht.“ Reinhard Federmann bevorzugt leise Töne, kleine Wörter, einen unauflälligen Satzbau. Er ist ein Erzähler, der sich geradezu bemüht, wenig Aufhebens um seinen Stil zu machen, fast scheint es, der Autor wolle hinter seinen Figuren verschwinden. In diesem Verschwinden war Federmann ein wahrer Meister, das hat es womöglich erleichtert, dass er nach seinem Tod selbst so rasch aus dem Gedächtnis der Literatur verschwunden ist. Fast alle seiner Kurzgeschichten gehen schlecht aus. Der Himmel, der sich über sein Wien der kleinen Leute und der großen Fantasten wölbt, heißt Scheitern. Milo Dor und Reinhard Federmann verband die Sympathie für die Verlierer, die Scheiternden. Diese allein bezeugen, dass die Geschichte einen anderen Verlauf hätte nehmen können, nehmen könnte. Nicht zu Unrecht haben sich Dor und Federmann selbst als Verlierer und Gescheiterte gefühlt. Immer wieder begegne ich Experten der österreichischen Literatur, die kein Buch von ihm gelesen haben, sich aber sicher sind, dass Milo Dor ein allzu konventioneller Erzähler gewesen wäre. Immer wieder bekommen wir zu hören, dass es in Österreich keine radikale Kritik wie in der deutschen Literatur jener Jahre gegeben habe, dabei beweisen Reinhard Federmanns Romane „Chronik einer Nacht“ und „Himmelreich der Lügner“ das Gegenteil. Die Aufsichtsbeamten des literarischen Betriebs haben jahrelang eine Literatur totgeschwiegen, deren Fehlen sie notorisch bedauern. Eine Kurzfassung dieses Textes erschien im Standard, 25.2.2023 MAI2023 35