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Tage später ein Abend im Literaturhaus und danach in einem Wirtshaus, Oscar bestellte als Nachspeise Kastanienreis, eine zweite, dann noch eine dritte Portion, er hätte wohl noch eine vierte und dann noch eine allerletzte verspeist. Seine Großmutter, von den Nazis ermordet, hatte ihm in Wien oft Kastanienreis zubereitet, erzählte er: Der vergessene Geschmack einer verschütteten inneren Heimat, begleitet von Tränen. Wo bin ich? Wer bin ich? Wie oft erzählte mir Öscar von seinen Albträumen, seinen Depressionen, den Anfällen, begleitet von Wut und Hass. Seine Psychotherapeutin hatte ihm dann geraten, seine Erinnerungen aufzuschreiben: selbsttherapeutisches Schreiben. Erinnerungsarbeit, aufgezeichnet im mexikanischen Spanisch der Hauptstadt. Jahre später, das war 2008 und wieder ein März in Mexiko, gab mir Öscar das Ergebnis seiner Erinnerungsarbeit. 275 spiralgebundene Seiten seines Manuskripts mit dem Titel Gajos de Vida (Die Zweige des Lebens). Als Titelbild wählte er ein Kinderfoto aus Wien mit der handschriftlichen Notiz „Burli, 27 Monate“. Öscar besprach mit mir, welche Möglichkeiten es gäbe, seine Erinnerungen herauszugeben, vielleicht gar in einer deutschen Übersetzung? Er schrieb mir eine Widmung: „Estimado Christian, los primeros borradores de algunos recuerdos. Para ti, con gran admiraciön y carino, Oscar’ (Lieber Christian, die erste Skizze einiger meiner Erinnerungen. Für dich (). 25.2.2008). Wenige Monate vor seinem Tod erschienen schließlich seine Lebenserinnerungen mit dem Titel Eleg/ el barco. Oscar Roemer: Viena, México, Rivera, Kahlo, Trotsky, Judio, Comunismo, Stalin, Alejandro, Nazis, Patria. Miroslava, Sarita Montiel, Cardenas, Perote, Mujica, Robeson, Ernesto, Miliza, Fascismo, Steinbeck, Ezequiel Padilla, Korjus: IDENTIDAD. Familia Judia. Austria-México. Herausgegeben im Eigenverlag und gestaltet von Real del Monte Casa Productora (Webdesign). Mexiko 2015. Die Suche nach den Wurzeln seiner Identitat ist das Prinzip dieser Erinnerungen. Das Beraubtsein vom Gefühl des absoluten Behütetseins der Jahre nach seiner Geburt in Wien zwingt zeitlebens zur Suche. Dies zeigt sich eindrucksvoll in den verzweigten und sich immer weiter verzweigenden biographischen Textteilen, die somit auch nicht chronologisch geordnet sein können. Sie wachsen und verzweigen sich durch die inneren Bilder der Erinnerung, Gefühle, Gerüche, Licht- und Schattenspiel im Beobachten von Landschaften, von den Menschen die ihn umgeben. Seine Familie steht im Mittelpunkt, seine Freunde, die Freundinnen und Freunde der Schulzeit, seine Schul- und Studienkollegen, die Menschen des jüdischen Exils in Mexiko. Das Drama des Iodes seines Kindes kann er nie vergessen oder gar überwinden: dieser Unfall ist Mord. Aber der Eros ist Leben und treibende Kraft, als Energie und sicherer Hafen spielt er eine zentrale Rolle. Sexualität erscheint als Quelle der Selbstsicherheit. Sie verheißt die Möglichkeit, sich immer wieder neu erleben zu können: zwischen den Augenblicken der Leere und der stetigen Suche nach dem Ich. Wer bin ich? Im Tanz, im Tango natürlich, im liebenden Akt, Körper als Gefühl, Gefühl ist der Körper. Und doch auch immer wieder diese Angst, verlassen zu werden, und die geliebten Menschen verlassen zu müssen, die fürchterliche Angst vor der Einsamkeit, vor dem Sterben: Verlassensein im Verlassenwerden. Das ich verschwimmt, löst sich auf, wird zum Nichts. Alicia, Öscar Roemers Lebensgefährtin, übergab mir seine letzten Gedichte, ein Geschenk an mich posthum. Darunter diesen Abschied: En la Ribera arena y piedra Parado. Espero. La barcaza con su remera Ferrea con trapos cubierta Guadana brillante Fuera bruja. Largo! Recoge al cruel, Al maldito. Quiero respirar un tiempo mds Un minuto. Amado, ame Quiero besar a mi novia Abrazar al hijo Un minuto solo Luego me voy Subito. Transformado por siempre En notas musicales Hecho musica Canto callado. (Oscar Roemer) Am Strand Stein und Sand Ich stehe. Ich warte. Das Boot und die Ruderin Eisern mit Fetzen bedeckt Blitzend die Sense Weg mit dir, Hexe Verschwinde! Nimm den Grausamen, Den Verdammten. Noch will ich ein wenig atmen Nur eine Minute noch Geliebt liebte ich Will noch meine Braut küssen Den Sohn umarmen Noch eine Minute Dann gehe ich schon Sofort. Für immer verwandelt In Noten für Musik Zu Musik geworden Ein stummes Lied. (Übertragen von Christian Kloyber) Anmerkung 1 Christian Kloyber: Exilio y Cultura. El exilio cultural austriaco en Mexico. Secretaria de Relaciones Exteriores, Mexico 2002 MAI2023 37