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NEUE TEXTE Öscar Roemer Ich wählte das Schiff Eine jüdische Familie. Österreich-Mexiko Vorgeschichten 2006 Eines Morgens erzählte mir Alicia, sie hätte in einer Zeitschrift gelesen, dass Personen gesucht würden, die ihre Erinnerungen aufschreiben möchten. Ich suchte nach dieser Zeitschrift und fand die Anzeige, die von Rosa Nissän gezeichnet war, der großartigen Schriftstellerin. -Ich kenne sie -sagte ich zu Alicia-. Vor Jahren habe ich sie kennengelernt, wir gehörten zur gleichen Gruppe. Bitte, ruf sie doch an. So nahm ich an der Schreibwerkstatt von Rosa teil und entschied, meine Memoiren in Bruchstücken zu schreiben, sie nicht in einen zeitlichen Ablaufzu bringen, sondern erst am Ende eine Anordnung zu finden. Wenn ich den anderen zuhörte, merkte ich, dass sie die Struktur nicht selbst wählten, vielmehr ergab sich diese aus dem Schreibprozess selbst, die Form wählte uns, nicht wir sie. Schriftsteller, die linear erzählen, folgen der linearen Form, Perfektionisten verbessern unaufhörlich jedes Wort und jeden Satz, Akademiker sättigen den Text mit Daten und Ergänzungen, jeder versucht zu schreiben, wie er kann. Diese Erinnerungen entstanden spontan. Aus der Erinnerung gleich aufs Papier. Möglichst keine Korrekturen. Verstreut. Chaotisch. Freie Assoziation. Rosa Nissän ist wunderbar, sie extrahiert mit unendlicher Geduld aus jedem einzelnen, was er ist. Die wahre Geschichte so auszudrücken, wie es jedem entspricht. Was ich hier schreibe ist meine Wahrheit. So wie ich das Gelebte sehen, denken, interpretieren möchte. Es sind Vignetten des Lebens. Flecken, Eindrücke, Bilder. Die Erinnerung an mein Sein, ein Hintereinander flüchtiger Bilder. Aneinandergereihte Augenblicke. Geschichten erinnernd, ohne chronologische Ordnung erzählt. Aus dem Augenblick heraus. Filmaufnahmen. Als ob sie nicht verbunden wären. Blitzlichter, die sich erst später zusammenfügen. Ein Puzzle aus Anekdoten, die vielleicht erst am Ende ein Bild erkennen lassen. Eine jüdische Familie flüchtet aus dem Wien der Nazi. Besetzung durch die Deutschen, „Anschluss“. Flucht. Amerika-Mexiko-Veracruz-Mexico City. Eine Heimat, Identität und ein neues Leben. Eine ähnliche Geschichte wie die anderer Emigranten, die ihr Leben retten und ihr Schicksal verbessern mussten. Ähnlich und doch einmalig. Die genaue Geschichte. Mein Vater hatte ein Doktorat in Musikwissenschaften. Dirigent. Komponist und Autor von musiktheoretischen Schriften. Schüler von Guido Adler und Arnold Schönberg. Dirigent an der Komischen Oper in Berlin (1929-1933) und musikalischer Leiter der Volksoper Wien. 48 _ZWISCHENWELT Meine Mutter, Lehrerin, unvergleichliche Tortenbäckerin. Meine Tante, Chemikerin und Ungarin. Im Juli 1938 landeten wir in Veracruz, Diego Rivera empfing uns. Schon zwei Wochen später dirigierte mein Vater wieder. Anpassung. Eine neue Identität aufbauen. Spannungen zwischen zwei Kulturen, das Leben geht weiter. Neue Generationen. Dieses Schicksal ähnelt dem vieler Juden, die auf unterschiedlichen Wegen ihrem Tod in den Konzentrationslagern entrinnen konnten. Ähnliche Erzählungen und doch ganz verschieden. Jedes Leben ähnelt anderen und ist doch einmalig, nicht vergleichbar, anders. Als wir Österreich verließen, war ich vier Jahre alt: Und jetzt schreibe ich diese Erinnerungen im 72. Lebensjahr. Eine innere Notwendigkeit macht mir Druck, zwingt mich, dieses Zeugnis abzulegen. Mein Zeugnis. Einmalig. Es folgt keiner Chronologie oder linearem Faden. Bezicht sich auf die Jahre, in denen das Erzählte geschah, oder die Fragmente geschrieben wurden. Die Art wie ich denke und fühle, verändert sich über die Jahre hinweg. Vor zwei Jahren (2003) wurde ich von der Österreichischen Regierung eingeladen um an einer Ehrung in Erinnerung an meinen Vater teilzunehmen. Ich erzählte im Parlament einen Teil unserer Geschichte. In Wien gibt es eine Bibliothek, welche die Geschichte der 1938 aus Wien vertriebenen Juden dokumentiert. Sie wollen auch meine Erinnerungen. Öscar Roemer, Architekt. Vier Jahre lang Piano und Cello. Maler: Abstrakter Expressionismus. Verhaltensforschung. Bühnenbildner. Designer. Hochschullehrer: dreißig Jahre lang. Verfasser von Artikeln. Öffentlicher Angestellter. Tango. Schach. 1933 Der eben Geborene kommt weinend auf die Welt, sein Leben wird die Begründung dafür liefern. Warm. Geschützt. Er hört Mozart. Schnell entwickle ich mich. Wohlgenährt. Ruhig. Das Tor öffnet sich. Plötzliche Kälte. Luft. Ins Freie entlassen. Alleine. Getrennt. Keiner. 1933 war es. 16. August. Wegbegleiter. Liebe. Reise voll starker Emotionen. Zieleinlauf. Wie am Beginn. Alleine. Mutterseelenalleine. Du hörst Mozart und gehst. [...]