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1938: Gestapo. Anton Brunner Ernst Moses Römer kam am Montagmorgen des 15. März 1938 in sein Theater, die Volksoper in Wien, und auf der Bühne kam die gesamte Belegschaft in Naziuniform zusammen. Österreich war von Hitler „angeschlossen“ worden. An einem Wochenende nur. Unter den Sängern, Hauptmann Anton Brunner. Tenor. Er war schon seit 1935 illegaler Nazi gewesen. Mein Vater hatte ihn immer gut behandelt. Brunner empfing ihn mit dem Hiclergruß. Sie sprachen. Mein Vater war sein einziger jüdischer Freund. In einem offiziellen Dienstwagen der Gestapo mit Chauffeur wurden meine Eltern gebracht, ihre Ausreisedokumente zu regeln. Brunner rettete meine Familie. Nach dem Krieg wurde er von den Russen gehängt. Er tötete dreißigtausend österreichische Juden in den Konzentrationslagern. 1919: Die Bürste In einem kleinen Dorf nahe der russischen Front teilte mein Vater sich sein Quartier mit einem antisemitischen Offizier. Eines Nachts fand er unter seinen Bettlaken eine Drahtbürste. Er schreckte aus dem Schlaf. Ein Aufschrei. Voll Schmerz und Wut weckte er den Offizier. Gemeinsam gingen sie in ein nahegelegenes Beisl, um bei einem Bier die Gemüter zu beruhigen. Sie hörten Sirenenalarme. Russische Flieger. Bomben. Danach, sie hatten überlebt, kehrten sie zurück. Ihre Unterkunft lag in Schutt und Asche. Die Russen hatten das Ziel nicht verfehlt. Ein antisemitischer Offizier war gerettet worden, um am Großen Krieg teilzunehmen, und ein jüdischer Musiker, um seine Kunst anderswo zu verbreiten. 1938: Der Park In Wien gab es eine Grünfläche. Umgeben war dieser Park von einem hohen Metallzaun, die Wiesen querten Fußwege, auf denen sich Hunde und Kinder auf ihren Rädern, Rollschuhen, Dreirädern und in Kinderwägen tummelten. Der Besitzer der Parkanlage, ein wohlhabender und großzügiger Mann, öffnete sein Anwesen für seine Leute, für die Kinder seines Volkes. Im Mai, in diesem Jahr des „Anschlusses“, spielte ich mit Freunden im Park an einem Brunnen, wir liefen patschnass herum. Nachmittags holte mich meine Mutter ab. Sie brachte uns eine Jause. Am nächsten Tag wurde der Park gegen Mittag versperrt, mit seinen Spaziergängern darin. Alle Besucher wurden brutal verprügelt, einige Kinder und Alte starben später an den Folgen. An diesem Tag war ich nicht dort. Dieser Park war für die jüdische Gemeinde Wiens. Der Zufall ließ mich überleben. Noch. 1938: Das Hakenkreuz Als die Nazis im Marz nach Wien kamen, marschierten sie durch die Straßen. Fahnen. Standarten. Uniformen. Musik. Ein riesiges visuelles Aufgebot. Alle waren wir auf der Straße. Weinende Menschen und glückliche Menschen. Meine Eltern, unbeeindruckt. Stumm, erschrocken und traurig. Ich schrie. Ich wollte ein Hakenkreuzfähnchen. Sie wurden an allen Ecken verkauft. Mein Betteln löste Ärger und Verzweiflung bei meiner Mutter aus. Sie nahm mich bei der Hand. Wir gingen zu einer Bank. Sie setzte sich und nahm mich auf den Schoß. Ich beruhigte mich. Sie sagte: —Burli, in diesem Land gibt es Kinder, die besitzen herrliche Hakenkreuzfähnchen, und es gibt andere, die haben keine, werden aber eine wunderbare Reise machen, in einem Schiff über das Meer. Welches Kind willst du sein? Ich wählte das Meer. Ich wählte das Schiff. 2002: Gewalttaten Mit neunundsechzig Jahren lässt mich meine Lebenserfahrung die gelebte Wirklichkeit in anderen Farben schen. 1. Pazifismus 1938-1939 hatten Chamberlain und Daladier einer Friedensphantasie wegen Hitler den Pakt von München angeboten. „Marschier in Elsass-Lothringen ein, annektiere Österreich, nimm die Sudeten in Besitz, okkupiere die Tschechoslowakei, ich, Großbritannien, ich, Frankreich, erlaube es dir um des Friedens willens.“ In diesen fürchterlichen Zeiten des 20. Jahrhunderts hätte ein starker Westen die Geschichte verändern, den Holocaust verhindern können. Der Frieden hätte wohl unter Anwendung von Gewalt zur rechten Zeit gesichert werden können. Hitler und Mussolini hätten blockiert werden können. Frieden um des Friedens willen, ohne die zukünftigen Kosten dafür mitzubedenken, ist eine gewaltsame und aggressive Entscheidung. Es gibt Schlachten, welche die Zukunft retten, und Pazifismus, der zu Chaos und Zerstörung führt. 2. Hiroshima 1945 war Japan noch immer im Kriegszustand, bereit bis zum Untergang zu kämpfen. Die Sowjetunion erklärte Japan den Krieg und Stalin besetzte sofort Gebiete: Die Kurilen-Inseln. Die Vereinigten Staaten nahmen an, dass eine Invasion Japans, notwendig um den Zweiten Weltkrieg zu beenden, mehr als einer Million Soldaten das Leben kosten würde. Truman zeigte Japan die zerstörerische Kraft der Atombombe vor ihrem Einsatz. Tojo antwortete: Wir kämpfen bis zum Tod des letzten japanischen Helden. Hiroshima und Nagasaki wurden zerstört. Japan ergab sich bedingungslos. Schreckliche Maßnahmen, die in Relation zu anderen Alternativen beurteilt werden müssen. Aus dem mexikanischen Spanisch ins Deutsche übersetzt von Christian Kloyber. Textauszug aus dem Band „Ich wählte das Schiff“ von Öscar Roemer, der 2023 im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft erscheinen wird. MAI2023 49