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Neujahrsnacht Heut ist Silvester. Bleiben wir wach und küssen einander um Mitternacht? Gehen wir schlafen und spannen das Netz im Zwischenzeitmeer für den singenden Fisch? Festlichbunt leuchtet das sterbende Blatt. Kommst du? Du meinst alle Blätter sind gleich: schlechtes Papier? Alle Nächte sind schwarz? Veilchenblau schimmert mein Traumnetz, es glitzern goldene Schuppen, näher und näher rauschen die Wogen — Jubel und Klage — Mitternachtslied. Nachtschattenspiele, Zauberwunschworte — gezinkt sind die Karten aus schwarzem Papier. Wer schnitt diese Nacht aus? Stumm schlüpften die dunklen, gestaltlosen Fische durch die zerrissenen Maschen des Netzes 31.12.1982 Non scholae sed vitae discimus Dämmerung. Wieder ein Schultag zu Ende. Der Wolkenschwamm löscht schon die Schrift auf der Tafel. Was stand dort? Die Wurzel? Die ging mir verloren, und daß Parallele sich doch einmal treffen, wie wäre das tröstlich, wenn nicht Unendlich die Schwester von Niemals und Nirgendwo wäre. Die Aufgaben hab ich ins Wasser geschrieben, verflossen ins Nichts sind die Tage, die Jahre, versäumt die Matura. — Was tut’s? Wenn der Wind kommt, fällt auch der unreife Apfel vom Baum. August 83 In deinen Häusern wohne ich gerne, auf deinen Plätzen geh ich spazieren, erkenne am Blick der todtraurigen Augen den Schatten der Mutter; die frierenden Bäume strecken die Arme zum lichtlosen Himmel, ein Totenlied singen die sprossenden Blumen, in deinen Irrsinn träum ich hinüber. (Beim Betrachten von Zeichnungen von Vincent van Gogh.) Ende Mai 1986 Die Aussicht Im Fenster, grau in grau, das alte Bild von eines toten Künstlers Hand gemalt im fernen Japan — oder hier von mir? — Hellgrau der Himmel, dunkle Bergkonturen und unten Bäume, dunkelgrau, fast schwarz. Der Nebel fällt herab, versunken ist mein Leben grau in grau. November 1986 Gras Wunschhalme sprießen rings um mein Bett. Wohin ich mich wende, beim Tisch, auf dem Teppich, vorm Herd, unterm Fenstersims wuchern und wispern heimliche Wünsche. — Vergiß sie! Zertritt sie! Nimm Sichel und Sense! Unmögliches Wünschen ist Frevel und Wahnsinn. — Das niedrige Gras, so alltäglich und harmlos? Freilich, das Zittergras träumt im geheimen: “nächstes Jahr fahren wir sicher ans Meer“. Aber die kräftigen, kürzeren Halme murmeln vom Abend am Fluß mit den Palmen, dem Schweigen der Berge, dem Glühwürmchenzauber. Andere kichern: “Gehn wir ins Kino?“ Weich breitet der Rasen sich unter den Füßen: “Wie gut sind die müßigen Stunden zuhause, das friedliche Nichtstun, ein Buch und das Radio, und wissen, du freust dich, weil ich bei dir bin.“ Überall wuchert das Gras: in den Höfen, am Rande der Straße, genügsam, bescheiden. Ist’s schadliches Unkraut? So sei’s drum, ich halte mich fest an dem letzten, zerbrechlichen Grashalm: im Lichte des Tages verdorren die Wiinsche, am Abend, vorm Schlafengehn laß mich dir sagen: “Schlaf gut, gute Nacht“.