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Trude Krakauer Heimkehr “Nebel“ dachte Martha. “Gut. Erst Februar und schon Nebel. Es wird bald warm werden. Schon gestern haben mir die Hände nicht mehr so weh getan und dabei waren die Taschen besonders schwer.“ Sie hatte sich dazu erzogen, für ihre Gefühle immer einen vernünftigen Grund anzugeben, selbst in ihren Gedanken. Aber sie liebte den Nebel. In der Stadt bedeutete er gedämpftes Licht, sanft, geheimnisvoll. Wie die chinesische Seidenstickerei, die sie gekauft hatte - ausnahmsweise war sie einmal leichtsinnig gewesen — und die im Salon hing. Schmetterlinge, Vögel, Gräser — eine Welt in unzähligen Schattierungen von Grau. Die Kinder fanden sie nur aus Höflichkeit schön. “Die Chinesen kennen so wundervolle Farben, so gewagte und doch geschmackvolle Zusammenstellungen von leuchtendem Blau und Grün und Gelb“ sagte ihr Sohn. Aber für sie lag das Glück in diesen feinsten Abstufungen, den kaum sichtbaren Übergängen. Und draußen, da hieß der Nebel Verwandlung. Gestalten, die zerfließen, sich verwandeln noch ehe man sie erkannt hat. Sie kommen wieder und wieder, aber sie sind nie ganz dieselben. “Wie aufeinem Berg“ fühlte sie sich auf dem kleinsten Erdhügel im Nebel. Auch in den Bergen war ja das Schönste in Wirklichkeit nicht die besonnte Aussicht, sondern der Nebel, der vom Alltag entfernt und verzaubert. Auch das Theater war so, wenn es wirklich schön war. Immer hatte sie es geliebt, als kleines Mädchen hatte sie sich gerne verkleidet, obwohl sie nie eitel gewesen war. Sie wollte nicht “schön“ sein, sie wollte sich verwandeln, hineinschlüpfen in ein fremdes Leben. Abends, der Blick in beleuchtete Fenster: Alltägliches Geschehen — Eine Familie bei Tisch — Spielende Kinder — Eine Frau an der Nähmaschine. Sie dachte sich lange Geschichten dazu aus. Es waren nur wenige Schritte vom Haus zum Markt. Sonst wäre es ihr gar nicht möglich gewesen, täglich einkaufen zu gehen. Und die Schlepperei war ihr manchmal auch so schon zu viel. Aber der Hinweg ward ihr oft zu kurz. Sie war gerne mit ihren Gedanken allein. Jetzt hieß es wieder, sich auf den Alltag konzentrieren: Suppenkraut, Erdäpfel brauche ich heute keine, irgendein Gemüse — viel Auswahl gibt es ja nicht, um diese Jahreszeit - und das Fleisch. Ein Mann kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Mittelgroß, schnig, braune Lederjacke, mageres, sonnverbranntes Gesicht, graue Augen. — “Woher kenne ich dieses Gesicht?“ “Mitzl, dass ma di wieder amal sicht!“ “Sie irren sich“ sagte sie und machte ein paar schnelle Schritte, obwohl sie eigentlich bei ihrer Gemüsefrau angelangt war. Er blieb an ihrer Seite. “Aber Mitzl, dös kann do net sein, dass du mi net derkennst. I bin do der Loisl.“ “Ich heiße nicht Mitzi“. Er scheint mich wirklich mit jemandem zu verwechseln. Mit irgendeiner Mitzel. Merkwürdig. “So“ sagte er nur. Ging noch immer neben ihr. Sie blieb vor einem Stand stehen. Nichts als Kraut, Kohl, gelbe Rüben. Sie suchte zwei Kohlhäuptel aus, zahlte. Er hatte ruhig gewartet, jetzt war er wieder neben ihr. “Lass mi do die Taschn tragn“. “Danke, sie sind gar nicht schwer“. Auf die Markttaschen kann er es doch nicht abgeschen haben, so sieht er nicht aus. Bäurisch, einfach, aber nicht abgerissen - irgendwie bekannt. “Und wie geht's dir denn alleweil, Mitzl?“ Zögernd klingt die Frage. Am besten, gar nicht antworten. Fast tut er mir leid. Fast tut es mir leid, dass ich nicht seine Mitzl bin. Er spricht schon wieder. “Schau, Mitzl, i weiß, du hast nix mehr wissen wollen 52 _ ZWISCHENWELT von uns. Aber wann ma si wiedersicht, nach so viel Jahr—. Als a Klane hast do alleweil Äpfel brockt mit mir. Und beim Huberwirt — mit kaner hab i tanzen wollen als wie mit dir. Das weißt do no, Mitzl. Und a jedesmal wenn i in die Stadt kommen bin, hab i denkt, kann sein i triff di. Und die Theaterzettel hab i mir alleweil angschaut. Aber wer weiß, wia du di jetzt heißt, beim Theater?“. Beim Theater ist seine Mitzl. Wer weiß, wie sie ausschaut. Aber sie schaut doch aus, wie ich. Gern wäre ich zum Theater gegangen. Aber das war natürlich nicht möglich. Die Mitzel hat es gekonnt. Oder — wer weiß? Was ist aus ihr geworden? Ich? — So geht das doch nicht. “Ich heiße nicht Mitzi und jetzt muss ich gehen“. “Ja, ja, i versteh scho. Alsdann, auf Wiedersehen, Mitzl.“ “Auf Wiedersehen“ antwortete sie mechanisch. Das hätte ich nicht sagen sollen. Er ist stehen geblieben und schaut mir nach. Er traut sich nicht, weiter mit mir zu gehen, obwohl er sicher gern wüsste, wo ich wohne. Nein, wo die Mitzel wohnt. “Heut hab ich ein merkwürdiges Erlebnis gehabt“ sagte sie zu ihrer Tochter. “Ja?“ Es klingt cher resigniert als neugierig. Susi lässt sich ungern in ihrer Lektüre unterbrechen. “Ja, ein Mann hat mich als “Mitzl“ begrüßt und war nicht davon abzubringen, dass wir uns kennen.“ “Ein alter Trick“. “Trick? Was sollte er denn von mir wollen? Ich bin eine alte Frau“. (Nicht älter als seine Mitzl, die er so gerne wiederschen möchte.) “Und er hat mich an alles Mögliche erinnern wollen.“ “Wirklich?“ sagt Susi. “Komisch,“ und neigt den Kopf demonstrativ wieder über ihr Buch. Natürlich, ich hätte ihr gar nichts erzählen sollen. Für ihn bin ich also die Mitzl. Ich könnte sie ja wirklich sein. Sie schaut so aus wie ich. Ob man Mitzi oder Martha heißt, ist das so ein großer Unterschied? Aber sie hat ein ganz anderes Leben. Wieso weiß ich das? Er weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Vielleicht hat sie geheiratet und hat zwei Kinder und geht alle Tage einkaufen. Hat ganz das gleiche Leben und es gibt gar keinen Unterschied zwischen ihr und mir? Aber früher, wie er sie gekannt hat? Aber sein Gesicht kommt mir bekannt vor. Vielleicht habe ich ihn gekannt und habe es vergessen? Vielleicht hat die Mitzl ihn vergessen, und nur er erinnert sich und weiß, dass ich die Mitzl bin. Was für blödes Zeug ich zusammendenke. Aber ich möchte gerne das Haus schen, in dem die Mitzl aufgewachsen ist. Ob es einen Garten hat oder nur eine Wiese und Gemüsefelder? Ich hätte nicht “Auf Wiedersehen“ sagen sollen, aber das ist doch ganz egal, ich werde ihn sicher nicht wiederschen. Am nächsten Tag hatte sie leichtes Herzklopfen als sie zu der Ecke kam, wo Da stand er. “Grüaß di Gott“. “Grüß Gott“ antwortete sie. Wieder ging er neben ihr. “I sollt wohl Gnä Frau zu dir sagen“ fing er plötzlich an. “Bist verheirat?“ “Ja“. Absurd, was geht ihn das an. Ich bin doch nicht “So“, sagt er, “i net“. Sie spürt das Blut heiß hinter den Augen. Sicher ist sie wieder rot geworden. Zu dumm! Aber sie ist froh. Meinetwegen hat er nicht geheiratet. Unsinn, wegen der Mitzi, wer weiß wie die Aber er glaubt noch immer, dass ich die Mitzi bin. “Hören Sie“, sagt sie und bleibt plötzlich stehen in ihrem Eifer, sich ihm verständlich zu machen, “ich“ — sie weiß nicht weiter. Was soll ich ihm eigentlich sagen. Immer wieder “Ich bin nicht die Mitzi, ich bin die Martha“. Das klingt so blöd. Was ist das schon für ein Unterschied. “Schau“ sagt er, bevor sie weitersprechen kann, “i