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weiß, du hast fortmüssen. Du warst halt anders. Grad deshalb “ Er spricht nicht weiter. Aber natürlich versteht sie. Wirklich, ich war immer “so anders“, das haben schon die Mädel in der Schule gefunden. In welcher Schule? “Und wie is dir denn alleweil gangen?“ fragt er wieder. “Ganz gut, danke.“ So dürfte ich nicht antworten. Warum? Ganz nichtssagende Phrase. Nehme ich die Mitzi-Rolle auf mich? Gar nichts nehme ich auf mich. “Mir gehts a ganz gut, so weit. Leicht hat's unseraner ja net. Kann sein, es wird jetzt besser.“ Meint er das politisch? Da draußen sind die meisten vernazt. — “Z’haus is alles beim Gleichen. Kuah hält’s kane mehr. Die Wiesen hab i ihr abkauft. Is halt kaner mehr da, der so recht dahinter wär, seit der Ferdl Ja, dass da Ferd] nimma zruckkamma is, wirst wohl wissen?“ Sie nickte. Ja, ihr Bruder war nicht aus dem Krieg zurückgekommen. Tränen schossen ihr in die Augen, wie immer, wenn man ihn erwähnte, auch jetzt noch, nach all den Jahren. Er drückte ihre Hand. “Jetzt gibst mir aber die Taschn.“ Der Loisl versteht mich, besser als mein Mann und Susi und Ernst. Natürlich, weil er uns als Kinder gekannt hat. — Er hat uns doch gar nicht gekannt und mein Bruder hat nicht Ferdl geheißen. Aber er ist im Krieg gefallen und der Loisl weiß, wie mir zumut ist “Die Fanni-Tant is halt a nimma die Jüngste, alles wird ihr zu viel, sehn tut’s a nimma gut“ fängt er wieder an. Sie hatte es gar nicht bemerkt, dass sie schon bei ihrem Haus angelangt sind. “So, da wohn ich“, sagt sie, “Auf Wiedersehen und danke vielmals“. Bedankt sie sich nur für das Taschentragen? Sie weiß es nicht. “Da wohnst? Aladern Pfüat di Gott, Mitzl.“ Er hat einen kurzen Blick auf das Haus geworfen. Zum Glück scheint er keine Einladung zu erwarten. Der nächste Tag war ein Sonntag, da ging sie nicht einkaufen. Sie erwachte mit einem leeren Gefühl, etwas fehlte ihr. Nachmittags machte sie mit ihrem Mann den gewohnten Sonntags- Ausflug“. Eigentlich war es nur ein kleiner Spaziergang. Von Hütteldorf nach Neuwaldegg — wie oft waren sie diesen Weg gegangen? Es war noch immer neblig. Sie sprachen nicht viel. Die Luft war gut, feucht, kühl. Am Straßenrand, undeutlich im Nebel, stand eine Hütte oder ein Schuppen. “Nussbäume sind es, die beim Haus stehen“ fiel ihr ein. Der dichte Schatten — fast zu kühl und dunkel war es im Haus, wenn man aus der grellen Sonne kam. Und die Beete vor dem Haus, ganz bunt und dichtgedrängt, Fuchsien, Rittersporn, Ringelblumen, Bohnen, die sich an Stäben die Wände hinauf und über die kleinen Fenster rankten Alt ist sie worden, die Fanni-Iant und kann nimmer so recht weiter ... Wenn sie stirbt, ist keiner mehr da, was wird aus dem Haus? ... Sie sah ihn diesmal nicht, als sie auf den Markt kam. “Richtig, ich bin ein bissel früher dran als sonst“. Sie ließ sich viel Zeit bei ihren Einkäufen. Dann ging sie noch zweimal hin und zurück, den ganzen Markt entlang. Die Buden standen in drei Reihen, man konnte sich leicht verfehlen. Eine Weile blieb sie noch an der Ecke stehen. “Jetzt ist es aber wirklich schon spät und worauf warte ich eigentlich? Der Loisl ist sicher wieder nach Hause gefahren. Aus, selbstverständlich.“ Aber sie war enttäuscht. Es war Unsinn natürlich, aber es war ihr schon zur Gewohnheit geworden, jedesmal wenn sie auf den Markt kam, nach rechts und links Ausschau zu halten und leicht zusammenzufahren, wenn sie eine braune Lederjacke sah. Als kleines Kind hatte sie ein Kindermädchen schr lieb gehabt und eines Morgens war sie aufgewacht und es war nicht mehr da. Damals hatte sie monatelang die Gassen entlang und in Häuserfenster und Tore hineingeschaut, immer in der Hoffnung, die Anna wiederzufinden. Daran erinnerte sie sich jetzt. Die Woche verging, Sonntag, eine neue Woche. Manchmal kam die Sonne heraus, meist war es neblig und feucht. In ihren Gedanken nannte sie sich Mitzl. Sie dachte viel an das Haus, die Nussbäume, Kindheitserinnerungen, wie das nasse Gras morgens kalt an ihre nackten Beine schlug, wie sie heimlich grüne, unreife Äpfel von den Bäumen riss. Tanz beim Huberwirt, die laute Musik, die Hitze im Saal, Staub, Stampfen, Gedränge, Durst, glühende Wangen, Übermut und Müdigkeit. Draußen der Mond Die unbestimmten Erwartungen, die Sehnsucht nach dem Theater An die Begegnung auf dem Markt dachte sie kaum mehr. Am Donnerstag stand er auf einmal wieder vor ihr. “Grüaß die Gott, Mitzl, wie geht's?“ “Danke gut“ - es fiel ihr gar nicht mehr ein, zu protestieren. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander. “I bin nur auf an Tag da, morgen fahr i wieder zruck“. Sie war enttäuscht, aber sie sagte nichts. “Dann wer i für a Weil net einakumma. Jetzt is viel zZtuan“. — Die Erdäpfel waren teuer und schlecht. “A Sünd und a Schand is, was da für die Erdäpfel verlangen und unseraner plagt si’s ganze Jahr und bringt’s zu nix“. Sie nickte. Er gab sich sichtlich einen Ruck. “Pass auf, Mitzl. I hab der Fanni-Tant erzählt, dass i di troffen hab. Hat net viel g’fehlt, dass zu platzen angfangen hätt. Sie is halt so viel allein. Und zu dir war’s do alleweil wia a Muatta.“ Mutter hat mich doch nie wirklich gern gehabt, der Bub war ihr Alles. Jetzt sind sie alle tot, nur die Fanni-Tant hab ich noch. “Mitzl, wann du’s besuchen tätst?“ Wieder nickte sie. “Ja, vielleicht, einmal.“ Das hätte ich nicht sagen sollen, ich kann ja doch nicht — Warum eigentlich nicht? - “Schau, sie is alt. Es is do so nah. Morgen früh fahr i. Komm mit, Mitzl “ Morgen, Freitag, über das Weekend - “Wann geht denn der Zug?“ fragte sie. Nein, das darf ich nicht, ich werde doch bestimmt nicht kommen. “Um halber neune, uma achte triff i di beim Westbahnhof.“ Man sieht ihm an, dass er sich freut. Gemein von mir. “Nein, ich glaub nicht, dass das geht. Vielleicht ein anderes Mal.“ “Es wird scho gehn, i wir warten, Mitzl. Und die Fanni-Tant — wird die si freun. Alsdern gelt, du kommst?“ “Ich weiß wirklich nicht — also, Auf Wiedersehen.“ Das dürfte ich nicht tun. -— Wem tu ich schon was Schlechtes an, damit? Ich mach einer alten Frau eine Freud. Und mir tat’s auch gut. Ich schn mich hinaus - nach Hause. Hier bin ich doch nicht zuhause. Und dort? Wer weiß. Sie sagte ihrem Mann, sie wolle ein bissel ausspannen. “Übers Weekend, vielleicht ein paar Tage länger.“ Sie wisse noch nicht genau, wo sie hinfahren werde. “In irgend ein kleines Nest, ausruhen“. “Natürlich, fahr nur.“ Der Bub hörte kaum zu. Susi versprach, sich um die Wirtschaft zu kümmern. — Ich werde ihnen gar nicht fehlen. Auch wenn ich nicht zurückkomme. Aber ich bin doch in ein paar Tagen wieder da. — Wer weiß, was geschicht. Es war natürlich niemandem eingefallen, sie zur Bahn zu bringen. Diesmal war es ihr lieber so. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen. War das ein “verbotenes Abenteuer“? Unsinn, es war ja wie immer: ihre Handlungen waren ganz alltäglich, durchaus erlaubt und sie dachte sich eine Geschichte dazu aus. — Nein, es war nicht wie immer. Im III. Klasse-Abteil des alten, schmutzigen Personenzuges fühlte sie sich glücklich erregt, wie jedesmal auf einer Reise. Fahrt ins Unbekannte und doch Bekannte. Fort von sich und näher zu sich. Man ist doch nicht nur eine Person. Sie schaute die ganze Zeit zum Fenster hinaus. Sie kannte die Strecke gut und es gab nicht viel zu schen, aber es machte ihr Freude. Der Boden war schon schneefrei, schwarz und feucht. Sie ahnte seinen Duft, verdeckt vom erregenden Rauchgeruch MAI2023 53