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der Lokomotive. Dort hinter den niedrigen Büschen gab es sicher schon Schneeglöckchen. Der Zug hielt in jeder, auch der kleinsten Station, aber sie genoss die Fahrt, sie hatte ja keine Eile. Es war schön, zu reisen. Noch waren sie nicht in den Bergen, aber die Luft war schon merklich kälter geworden. Eisschollen in den Bächen. Kinder winken den Passagieren des Zuges zu. Das habe ich auch immer so gerne getan. Die Leute, die an einem vorbeifahren, kommen einem immer so interessant vor, Abenteurer, die in die weite Welt hinausziehen. Und in Wirklichkeit, sind es lauter kleine Menschen mit nahen Zielen. “Er lebte, nahm ein Weib und starb“ das ist mir immer so trostlos vorgekommen. Lieber alles Mögliche erleiden, nur das nicht. Und in Wirklichkeit gibt es das doch gar nicht. Jeder hat sein Schicksal, nur kennen die Chronisten nicht alle. Aber wichtig ist das Leben und nicht die Chronik. Rauch stieg aus Schornsteinen, Frauen mit Krügen standen beim Laufbrunnen. Friedliches Leben. So möchte ich leben. Die Stadt würde mir nicht fehlen. Auch nicht die Oper, Theater, Konzerte? Nicht sehr. Natürlich die Kinder — . Aber sie würden mich kaum vermissen. Nicht wirklich. Jeder lebt sein Leben. Sie sind fremd. Schon als Säugling hat mich Susi immer so kritisch prüfend angeschaut. Der Bub war zärtlich, als er klein war. Aber heute sind sie beide überzeugt, dass die Mutter sie nicht versteht. Und wenn ich versuche, ihnen von mir zu erzählen, langweilt es sie. Auch Robert habe ich eigentlich nie von mir sprechen dürfen, musste immer nur zuhören und zustimmen. Er will zwar meine Meinung hören, aber wenn sie von seiner abweicht, hält er mich für dumm. Trotzdem, ihm würde ich schon fehlen. Vierundzwanzig Jahre. Das ist eine lange Zeit. — Lang genug. Ich möchte gerne wieder nach Hause. Der Loisl nimmt den Koffer herunter. Sind wir schon da? Natürlich erkenn ich den Bahnhof. Alle Landbahnhöfe sind gleich. Auch die Straße bin ich hundertmal gegangen. Zwei Reihen Häuser, fast keine Leute. Hühner und Gänse. Der nasse Schnee klebtan den Schuhsohlen. Da ist schon der Marktplatz, die kleine Barockkirche, der Brunnen auf einem Sockel mit drei niedrigen Stufen, der Baum ist natürlich kahl, aber ich erinnere mich, wie gut die Lindenblüten im Sommer riechen und wie die Bienen summen. Jetzt biegen wir rechts ab. Ein Feldweg. Hier ist der Schnee noch fester. Herrgott, da ist ja schon das Haus mit den Nussbäumen. — Wie kann ich — nach all der Zeit Am gescheitesten wärs wieder umzukehren. Der Loisl hat schon die Türe geöffnet, ohne anzuklopfen. Die warme Küche. Gut ist es, aus der Kälte nach Hause zu kommen, in die warme Küche. Die alte Frau am Herd. Hat sie wirklich noch immer denselben Rock an, dieselbe lange, dunkelblaue Schürze? Jetzt dreht sie sich um. Alt ist sie geworden, ganz verrunzelt. Zahnloser Mund. Die hellblauen Augen schen streng drein. “Kissd’ Hand, Fanni-Tant, da hab i’s also herzahrt, die Mitzl“ murmelt der Loisl. “Auf d’Nacht schau i uma. Pfuät enk Gott, daweil“. Schon ist er draußen. Den Koffer hat er neben die Tür gestellt. Die alte Frau wischt die Hand an der Schürze ab und streckt sie ihr entgegen. Martha beugt sich darüber und küsst sie. Wie lange hat sie das nicht getan? Abgearbeitete, raue Hand, riecht nach Erdäpfelschalen und Fett. “Guat dassd kimma bist“, sagt die Tante, “i mach's nimma lang“. Sie spricht langsam, bedächtig, aber die Stimme klingt fest. “Das soll man nie sagen“ murmelt Martha. Sie ist leicht verlegen, wie immer wenn jemand von feierlichen Dingen spricht, aber sie fühlt sich schon zu Hause. “Ja, ja, wie halt unser Herrgott will. Wannst bleibst, kannst mir a bissel helfen. Viel is eh net zZtuan. Aufs Schweindl und die HendIn 54 ZWISCHENWELT schaut mir die Veverl, dem Hiasler sei Tochterkind, weißt. Wannst bleibst, schick is ham. Schlafen kannst in der Stubn, Platz hamma gnua.“ Sie wendet sich wieder dem Herd zu und Martha nimmt ihren Koffer auf und öffnet die Stubentür. Sofort erkennt sie den charakteristischen säuerlichen Geruch. Ja, alles ist so wie sie es in Erinnerung hat. Das Bett, hochgetürmt mit rot und weiß karierten Duchenten. Darüber das Muttergottesbild, Palmkatzerl dahinter gesteckt. Das kleine Fenster, von Raureif bedeckt, die dunkle, etwas wacklige Kommode. — Immer dieses “Wannst bleibst“. Dass ich verheiratet bin, scheinen sie nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Na ja, sie sind halt nicht damit einverstanden. Sie packte die paar Sachen, die sie mitgebracht hatte, aus, wusch sich die Hände in dem kleinen Emailbecken. Wie oft war sie so zum Brunnen um frisches Wasser gegangen. — “Morgen früh ist es sicher wieder im Krug gefroren“ dachte sie. Als sie wieder in die Küche kam, war es schon Zeit zum Essen. Auch die Veverl war hereingekommen, ein mageres, halbwüchsiges Ding, die dunkelblonden, dünnen Zöpfe in Gretelfrisur aufgesteckt. Die Tante murmelte ein Gebet, dann setzten sie sich alle drei an den blankgescheuerten Fichtentisch. In der Mitte stand die große Schüssel mit Sterz, an jedem Platz lag ein Blechlöffel. Sie aßen schweigend. Auch an diese Mahlzeiten erinnerte sie sich. Nach dem Essen döste die Tante vor sich hin. Die Veverl hatte das Geschirr gewaschen, war dann wieder verschwunden. Martha ging spazieren, obwohl ihr das irgendwie unpassend vorkam. Ein paar Kinder starrten sie an. Bald werde ich sie kennen und sie mich. Sie ging quer über die Felder, zum Wald, folgte dem schmalen, ausgetretenen Weg. Hier war der Schnee noch fest gefroren, knirschte unter den Füßen. Auch auf den Bäumen lag noch Schnee. Wie festlich er mich empfängt, mein Wald. Tannen und Fichten. “Der Wald“ für mich. Als Kind war ich ganz erstaunt darüber, dass es auch Laubwald gibt. Es fällt mir schwer, die Pockerln und Tannenzapfen liegen zu lassen, wenn ich eine Butten mithätte, könnte ich welche zum Heizen nach Haus bringen. Sie ging ein gutes Stück, die kalte, frische Luft tat ihr gut. Wie ruhig es hier ist. Schön ist es, wieder zu Hause zu sein. Aber ich muss umkehren, es dimmert schon. Nach dem Nachtmahl war die Veverl beim Herd sitzend eingenickt. Die Tante strickte. Martha genoss es, zu Hause zu sein. Werde ich hierbleiben? Ich weiß es noch nicht. Ich habe Zeit, das zu entscheiden. Vorläufig bin ich froh, dass ich da bin. Schläfrig bin ich, das kommt von der scharfen Luft. Ob der Loisl bald kommt? Die Veverl ist aufgewacht und starrt sie mit großen Augen an. Martha lächelt ihr zu. Eifrig schiebt die Kleine ihren niedrigen Schemel näher. “Vom Theater san’S?“ fragt sie neugierig. Martha schüttelt den Kopf und fühlt sich gleich wieder schuldbewusst, weil sie dieses wunderhungrige, junge Wesen enttäuschen muss. “Aber ich geh oft ins Theater, vielleicht kann ich dich einmal mitnehmen“ sagt sie zum Trost. Sofort beginnt sie nachzudenken, zu welchem Stück sie die Veverl führen soll. Mich haben in ihrem Alter “Die Räuber“ begeistert, aber ob sie was davon hätte? Kaum. — Wer weiß? In der Stube hängt ein geschmackloser Druck — den hab ich auch schon in meiner Kindheit gekannt: “Der Tod des Wilddiebs“. Der Jäger, der Hüter von Recht und Ordnung, ist unsympathisch, er hat den noch rauchenden Stutzen in der Hand, ein hämisches Lächeln verzerrt den Mund unter dem aufgezwirbelten Schnurrbart, und der Wilddieb liegt im Gras neben der von ihm erlegten Gämse, er stützt sich auf die linke Hand und presst die rechte aufs Herz, aus dem das rote Blut über sein blaues Wams ins giftgriine Gras fließt. Er sicht edel aus. Sicher wollte er die Gämse der armen Witwe mit neun Kindern nachts