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Käfigs. Mitleidigen Blicks versuchte ich seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Vergebens. „Was stehst du da so herum und schaust mit hängenden Augen auf mich herab? Du störst mich.“ „Oh, Entschuldigung“, stammelte ich erschrocken und drehte mich um, dem Mann, der sich durch mein Hiersein gestört fühlte, zu erklären, daß ich ihn gar nicht gesehen hätte und daher auch nicht mitleidig anschen könne. Aber da war niemand. Ich dachte, vielleicht hat er sich hinter dem Käfig versteckt. Oder darunter. Aber weit und breit war niemand. Ich drehte mich zurück zum Löwen, sah ihn prüfend und mißtrauisch an. War er echt oder steckte ein Mensch in seinem Fell? „Du bist dumm!“, der Löwe rifß sein Maul auf, daß sein Schlund zu sehen war und die Worte wie aus einem Lautsprecher dröhnten. Ich war versucht wegzulaufen. Aber wie gebannt verharrte ich auf dem Fleck, auf dem ich stand. Endlich hatte ich mich aus meiner Erstarrung gelöst, sah mich vorsichtig um, ging ein paar Schritte näher an den Käfig heran und murmelte: „Kannst du sprechen, Löwe?“ Er hob müde sein Augenlid, ließ es gleich wieder fallen und brummelte vor sich hin: „Wenn ich will, ja!“ Ich war erregt, es war kaum zu fassen. In meinen Schläfen war das Klopfen von Eisenhämmern zu verspüren. Ich war sprachlos. Mitaller Kraft versuchte ich eine Frage zu formulieren, ich mußte doch mit ihm sprechen. Ich ja, was wollte ich nur wissen von einem Löwen? „Wie geht es dir?“ Die Konversation begann konventionell genug. Immerhin, es war ein Anfang. „Danke, ich bin satt.“ Das war zwar nicht meine Frage, aber vielleicht im Leben eines Löwen die wichtigste. Ich mußte direkt in die Mitte seines Löwenlebens meine Frage hineinwerfen. Ich hatte ja keine Erfahrung im Interviewen von wilden Tieren. Ehrlich gesagt, hatte ich überhaupt keine Erfahrung mit wilden Tieren. Aber ich kannte mich bestens mit Katzen aus. Also: ihnen nicht in die Augen schen, Abstand halten. Den Hals des Löwen zu kraulen, getraute ich mich allerdings nicht. Los, los!, zuckte es in meinem Hirnstamm, sag was! „Also, du bist satt, gut, aber hast du keine Sehnsucht zurück in deine Heimat nach Afrika, in die Wildnis, zu deinem Rudel?“ „Wer ist Rudel? Kenn ich nicht“, brummte er zurück. „Deine Familie, die Löwinnen mit deinen Jungen.“ Zum ersten Mal hob er leicht sein Haupt, „Wovon sprichst du?“ „Von den kleinen Löwenbabys, die deine Art erhalten.“ „Ich halte nicht viel von diesen Freßsäcken. Außerdem bin ich im Zoo geboren und habe keine Kinder.“ „Das ist ja das Schlimme, du hast keine Familie, lebst hier so allein, jagtest niemals in freier Wildbahn hinter deiner Beute her, kämpftest niemals um die Vorherrschaft mit einem Rivalen, zeugtest keine kleinen Löwen“. Ich kam richtig ins Schwärmen über meine Vorstellungen eines erfüllten Löwenlebens. Plötzlich ertönte ein markerschütterndes Gebrüll aus dem Käfig: „Danke, danke, du kannst dir deine Romantik hinter die Ohren schmieren. Ich kenne dieses Leben aus „Universum“: Tagelang hinter einer Beute mit knurrendem Magen herjagen, beim Angriff eines Büffels der Gefahr des Zertrampeltwerdens ausgeliefert sein, von vertrottelten Großwildjägern mit dem Erschießen bedroht werden. Das alles nennst du ein erfülltes Löwenleben? Danke, nicht für mich. Ich liebe es, mein Futter vor die Nase gelegt zu 56 _ZWISCHENWELT bekommen, und dem Menschen, wenn er mir zu nahe kommt, Furcht einzujagen.“ Mein Ansinnen hatte ihn so erregt, daß er ein paar Mal, das Gitter streifend, in seinem Käfig hin und her lief. Endlich hatte er sich beruhigt und ließ sich schwer auf seine Pranken fallen. Sein heifger Atem streifte mein Gesicht: „Mein Dompteur hat die moderne Schmeichelmethode für meine Zähmung angewendet. Ich habe gern seinen Kopf zwischen meinen Zähnen und weiß, daß sein Erfolg und sein Leben nur von mir abhängen. Zweimal täglich darf er mit mir in die Arena. Zweimal täglich spricht er mit mir und wir spielen: ‚Wer ist der Stärkere?‘“ Ob sein Lehrmeister wohl Francis Bacon gelesen hat: Man kann die Natur nicht erobern, ohne ihr zu gehorchen. Könnte ein Leitsatz der Grünen sein. Aber inzwischen haben auch sie ihn schon vergessen. „Auch einen Tiger, noch drei Löwinnen, einen Panther und ein Pferd treffe ich täglich zweimal.“ Die Stimme des Löwen vibrierte: „Das Pferd darf ich leider nicht fressen, aber ich bin ohnedies satt, wenn ich meine Proben und Vorstellungen habe. Und im Gegensatz zu den Menschen fresse ich nur, wenn ich Hunger habe. Im übrigen habe ich hier eine doppelt so hohe Lebenserwartung wie in freier Wildbahn, solltest du wissen.“ Ich versuchte hartnäckig in dem Löwen Erinnerungen zu wecken an sein Leben in Freiheit und schilderte ihm die neuausgearbeiteten Richtlinien einer artgerechten Haltung von wilden Tieren. Aber er spottete nur und schüttelte angewidert seine sprichwörtliche Löwenmähne: „Kümmert euch um die Transporte der Haustiere, die ihr Menschen quer durch Europa schickt, nur um sie frischgeschlachtet fressen zu können. Ist das artgerecht?“ „Was würdest du sagen, wenn man dich frei ließe?“, versuchte ich nun direkt ins Zentrum des Themas zu kommen. „Dann wäre ich der erste Stadtlöwe“, grinste er. „Und wovon soll ich leben, von euren Schoßhunden?“ „Nein, sie würden dich in die Wildnis zurückbringen, wo du ein artgerechtes Leben führen kannst, oder wenigstens in einen Zoo.“ „Und wer spricht dort mit mir? Ich bin ein gezähmter, zivilisierter Löwe. Ich bin ein Künstler. Stell dir vor, ich nehme im Zoo den Kopf des Wärters zwischen meine Zähne? Na danke, den Wirbel höre ich schon. Sag meinem Zirkusdirektor, er soll die Akrobaten entlassen. Vielleicht haben die Lust, sich artgerecht zu bewegen, statt sich zu verbiegen in schwindelnder Höhe, Feuer zu schlucken, herumzuturnen im Sägemehl. Ist das artgerecht? Außerdem können die sich neue Arbeit beschaffen. Aber mich kann er nicht entlassen, auch wenn es ihm schlecht geht und das Geld für mein Futter knapp ist. Den kleinen Zirkussen geht es nicht sehr gut. Und hör endlich auf, von artgerechter Haltung zu reden. Wie leben denn deine Menschen? Artgerecht? Sag ihnen doch, sie sollen dahingehen, wo sie einst waren: in den Wald, in die Wildnis. Sie sollen jedes Tier, das sie fressen wollen, vorher jagen. Sie sollen sich mit dem begnügen, was sie zum Leben brauchen und nicht so viel unnötigen Ballast mit sich schleppen. Sie sollen ihre Kinder nicht in Kindergartenghettos stecken, sie sollen ihnen die Freiheit in der Natur gönnen, wie das einmal war. Sie sollen nicht ihr Leben mit unnützer Arbeit totschlagen, nur um sich noch mehr Plastik um die Ohren zu hauen.“ „Ach, du weißt doch, daß die Technisierung und die Wissenschaft die Menschen aus Wald und Wildnis vertrieben hat.“ „Nicht alle, das weiß ich. Es gibt noch Wilde, die in Wäldern leben. Ohne Plastik.“