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„Ja, das weiß ich auch. Außerdem sind das nicht Wilde, sondern Naturvölker. Aber das Gros der Menschen ist dem Fortschritt verpflichtet. Außerdem wollte ich nicht über die Lebensart der Menschen mit dir sprechen, sondern über deine. Du bist ein wildes Tier und gehörst in die Wildnis.“ „Ich bin ein wildes Tier? Wenn ich jetzt nicht durch ein Gitter von dir getrennt wäre, würde ich dir zeigen, was ein wildes Tier ist. Ja, übrigens, was ist ein wildes Tier?“, er grinste mich an, sein Gebiß bohrte sich in meinen Blick. „Das hängt von seinem Lebensraum ab, was ein wildes Tier ist. Rehe leben allerdings auch in freier Wildbahn, man nennt sie Wild, ohne daß sie wirkliche wilde Tiere sind“, resümierte ich vor mich hin, in dem Versuch, mir selbst zu erklären, was ein wildes Tier ist. Ein bedrohliches Knurren unterbrach meinen Vortrag über wilde Tiere. „Also, sie leben in „artgerechter Umgebung“, das heißt: sie gestalten ihr Leben selbst, so wie es ihre Natur ihnen vorschreibt“, versuchte ich noch rasch zu einem Ende meiner Rede zu kommen. „Ha! Ha! Ich weiß jetzt von welcher Partei du bist. Von den Grünen! Ihr seid wohl besessen von der Idee: Zurück zur Natur, was?!“ „Sag das nicht so laut. Wir wollen doch eine Fortschrittspartei sein.“ ,,,Zuriick zur Natur’ ist doch auch ein Fortschritt, oder?“ „Ja, gewiß. Nur klingt es nach Blut und Boden. Und das hat es in der Nazizeit schon gegeben.“ „Was ist Nazizeit?“ „Ach Löwe, bleiben wir doch bei dir und deinem Thema.“ „Ja, das ist mir auch recht. Also verkrümele dich, ich muß bald auftreten und brauche jetzt meine Ruhe. Geh in den Zirkus und bewunder mich. Und wehe, wenn du nicht klatscht, wenn ich dir zeige, wie zivilisiert ich bin. Ciao, bis später.“ Ich wollte noch etwas sagen, aber der Löwe drehte mir seine Kehrseite zu und ging in die hinterste Ecke seiner Behausung. Ich respektierte seinen Wunsch nach Ruhe und ging zum großen Zelt, wo in wenigen Minuten die Vorstellung begann. Der Zirkus war halb voll. Viele Kinder waren da. Noch nahm der Zauber der Manege sie trotz Computer und Technisierung gefangen. Die naiven Späße der Clowns erfreuten die Kinder wie ch und je. Und die atemberaubenden Kunststücke der Jongleure und Akrobaten ließen auch die Erwachsenen den Atem anhalten. Endlich war es soweit. Durch getrennte vergitterte Gänge liefen die Raubkatzen in die Arena. Eine Katze nach der anderen wurde vom Dompteur empfangen und an ihren Platz geleitet, ohne daß er die anderen aus dem Blick verlor. Im Hintergrund der Manege wartete ein Pferd auf seinen Auftritt. Als der Löwe kam, war es mucksmäuschenstill in der Arena und Schillers Handschuh fiel mir ein: Und hinein mit bedächtigem Schritt ein Löwe tritt Auch hier in der Zirkusarena tat die souveräne Wildheit dieses Tieres seine Wirkung. Ich beobachtete ihn. Machte er all das gerne? Träge und widerwillig folgte er den Anweisungen des Dompteurs. Ich saß ihm direkt gegenüber, durch das hohe Gitter getrennt. In einem, wie es schien, unbeobachteten Augenblick, fixierte er mich sekundenlang und brüllte los, um gleich darauf seine Mähne zu schütteln. Er zog die Oberlippe leicht hoch und zeigte seine Zähne. Ich fühlte, daß der Dompteur plötzlich noch konzentrierter als bisher seine Anweisungen gab. Schon war der Löwe wieder bereit, auf die Befehle des Mannes ihm gegenüber zu hören. Er saß auf seinem Podest und neigte seinen Kopf dem Dompteur entgegen. Dieser sprach leise mit ihm. Da riff der Lowe sein Maul auf, nahm vorsichtig den Kopf seines Bändigers zwischen seine Zähne, und demonstrierte triumphierend seine bezähmte Wildheit. Ich sah der Szene mit atemloser Spannung zu. Sekunden der Stille folgten. Dann brandete begeisterter Applaus auf. Als die Tiere ihre letzte Runde vor dem Abgang an der Bande der Arena drehten, blieb der Löwe kurz vor meinem Platz stehen und wandte mir den Kopf zu. Ich applaudierte ihm begeistert. Doch schon lief er durch den Gang aus der Manege. Den Rest der Vorstellung verfolgte ich mit halber Aufmerksamkeit. Es war plötzlich ein Schleier von Traurigkeit über dem Ganzen. Ich hatte eben einer aussterbenden Kunst zugesehen. In fünfzehn Jahren, solange ist die Auslauffrist fiir die Haltung von wilden Tieren in den Zirkussen, wird es keine Löwenbändiger mehr geben. Sie zeigten uns die Kunst der Bezähmung der Wildheit in der Natur. Immer mit der Möglichkeit, daß die Natur den Menschen besiegt. Aber ist schon in Ordnung, daß der Mensch der Natur, dem Tier seinen artgerechten Raum gibt. Jetzt sollte nur noch der Mensch dem Menschen seinen Raum geben. Aber dazu bedarf es noch vieler „Anträge“ an die Allgewaltigen der Welt. Der Ball der Masken Mitten im Tanz verlor der Narr seine Maske. Keiner erkannte ihn mehr. Als die anderen Masken das verlorene Gesicht auf dem Boden liegen sahen, konnten sie sich nicht erklären, wo denn der Rest geblieben sei. Da graute es den anderen Masken, und sie zogen sich zurück. Verloren im Saal tanzte der Narr ohne Maske durch die zurückweichende Menge. Sein Lächeln lag bloß im nackten Gesicht. Er wunderte sich, daß niemand ihn grüßte und niemand das Wort an ihn richtete. Seine Nacktheit war den anderen Masken peinlich und sie wendeten sich von ihm ab. Im kristallklaren Spiegel sah sich der Narr ohne Maske: Aus seinen Augen sprang ja sein Herz! Da schlug er rasch die Hände vor sein nacktes Gesicht. Tränen rannen ihm durch die Finger in den Ärmel. „Wie kann man sich so gehen lassen?!“ Ging ein Raunen durch die anderen Masken und sie strömten Eiseskälte aus. Aus dem feindseligen Raum trieb es den Narren ohne Maske. Taumelnd suchte er den Ausgang. Doch da er den Rock vor sein Gesicht hielt — Keiner sollte ihn so je wieder sehen — sah er nichts, und trat auf seine Maske, die am Boden lag. Stille breitete sich aus unter den anderen Masken. Man hörte nur das Knirschen des Schuhs. MAI 2023 57