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Tscheka Hab den Film Der Tschekist gesehen und online nachgeschaut, wie viele sie umgebracht haben. Eine Antwort war ein paar Millionen. Fast so wie die Nazi-Judenvernichtung. Im Keller eine Reihe nach der anderen gezwungen, sich nackt auszuzichen. Männer, Frauen, alle erschossen, dann wie abgebrühte Schweine die Füße zusammengebunden und aufgehängt. In Wagen gepackt und abtransportiert, hinten schauen die nackten Füße heraus. Im Rumpeln und Rattern der Wagen, wie wenn in der Luft jemand Klavier spielt. Missratene Leben Große Schwester ist brav. Hat um ein paar Punkte die Uni verfehlt. Mama lässt sie's nicht nochmal versuchen. Sie kommt in die Fabrik des Dorfes. Ein paar Jahre später hat sie sich umgebracht. Der ältere kleine Bruder ist brav. Schließt die Mittelschule nicht ab, kommt zurück an den Hof. Hat im Sommer in fremden Teichen gefischt und kriegt Schläge, Vater schickt ihn zur Dorfaufsicht. Als er heimkommt, trinkt er im Maisfeld Insektengift. Ich bin von klein auf nicht brav, passiver Widerstand gegen Mama. Ich werd viel geschimpft, gehorch immer weniger. Hab in der Kreisstadt die Uni-Aufnahmeprüfung geschafft, hab das Weite gesucht, ein missratenes Kind. Mein kleinerer Bruder ist auch nicht brav, gehorcht nicht und kommt oft in Schwierigkeiten. Mein Vater hat ihm die Finger in die Zange gesteckt. Er fährt mit dem Fahrrad die ganze Nacht in die Stadt, um einmal zu sehen, was dort alles los ist. Ein missratenes Kind, zweifellos. „Die Guten sind alle gestorben“, das hat Mama immer wieder geseufzt. Nach vielen Seufzern hab ich auch etwas verstanden. In harten Zeiten, in solchen Situationen können Missratene überleben. Im Sommer schick ich Dir Bücher! Martin Winter schreibt mir auf WeChat, „Im Sommer schick ich dir Bücher!“ Ich bedank mich, gleichzeitig les ich es wie einen Vers in einem Gedicht und denk mir ist Martins Sommer derselbe wie meiner in meiner kleinen Stadt? Martin sagt, Österreich sei sehr klein. Egal wie klein, ist es doch ein Reich von dem ich sehr wenig weiß, obwohl alle Kaiserreiche schon untergegangen sind. Aus dem Chinesischen übersetzt von Martin Winter Die ersten drei der übersetzten Gedichte von Jun Er sind erschienen in: BRETT VOLLER NÄGEL. Neue Poesie aus China. 1: A-J. Übersetzt von Martin Winter. Herausgegeben von Juliane Adler und Martin Winter. Wien: fabrik.transit 2021. Bei den übrigen handelt es sich um Erstveröffentlichungen. Ma Jinshan 24611 Tellerleben ein teller zwei teller drei teller vier teller manchmal sind sie aufeinander gestapelt manchmal stellt man sie dicht aneinander manchmal machen sie ein geräusch: „ding-dong“ meistens bleiben sie schweigend beisammen und geben keinen laut von sich Friedhof Alte Mutter verbrennt Totengeld, murmelt und nuschelt: „Sohn, wenn du das hier bekommst, geh um Gottes Willen nicht ins Casino.” MAI 2023 61