OCR
Tante Lisi Tante Lisi, verheiratete Kuhn, beherrschte die Technik mit aufgestütztem Kopf am Tisch zu schlafen, um nach zehn Minuten erholt wieder an ihre nicht endenden Arbeiten zu gehen Hühner rupfen, Kraut einlegen, Knödelmasse rühren, die Bohnen ernten am Zaun, dem Schwein Susi die Abwasch geben, dem Hund, dessen Namen ich nicht behalten habe, das Herumjagen der Hühner verbieten. Dann raffte sie schnell ein paar Blumen zusammen, denn die Vase durfte nicht leer stehen so wenig wie die Mägen des Mannes, des Sohnes, der ungeliebten Schwiegertochter, der Enkel. Die Gärtnerei in der Lobau hat sie fast allein bewirtschaftet Jetzt ist dort auf einer kleinen Anhöhe ein Reitstall. Das Reiten bringt hervorragenden Dünger, doch sonst? Den „Onkel“ Ferdinand, ihren Mann, schleppten sie beim Rückzug in Jugoslawien auf einer Geschützlafette ins Feldspital mit Wundbrand im Bein zur Knochensäge. Einbeinig fuhr Ferdinand Kuhn (1909 - 1987) gern mit dem Traktor. Aber er tat sich schwer mit dem Blutdruck, dem Alkohol und dem Gleichgewicht. Tante Lisi, die den Familienkarren zog, erkrankte mit 73 an Brustkrebs. Man amputierte auch hier und entfernte die Lymphknoten unter den Achseln. Lisi wurde 79 Jahre alt. Starb ein halbes Jahr nach Ferdinand. Sie meinte: Die Krankheit geschah ihr zu Unrecht, sie hatte Ferdinand dort nie hingreifen lassen. Trotzdem hatte der Krebs sich eingeschlichen. Über Ferdinands Tun und Lassen in der SS-Division Prinz Eugen war nur so viel zu hören: Die Partisanen waren es. Großmutter Anna Wenn ich meiner Großmutter Anna Neururer glauben soll habe ich einen Heiligen in der Familie Sie war ein Waisenkind sie gebar 1916 unehelich Meine Mutter Vater Bregenzerwald, Unterofhizier ganz dunkler Typ (das wissen wir schon) er durfte die „liederliche Tirolerin“ nicht heiraten War er der Sohn von einer Gastwirtschaft, französische Vorfahren? Jedenfalls das Kind, Maria, meine Mutter, dunkler Teint, dunkles Haar, schwarze Vogelaugen. Das Kind 1916 brauchte auch etwas, Tücher, es einzuschlagen. Es gab ja ein Erbe, das der Vormund, ein Verwandter -, Cousin welchen Grades? - für die noch unmündige 21-jährige Wöchnerin verwahrte: Einen Schrank voller Wäsche und Geld. All das Weißgenähte, die Leintücher Wickel, das kostbare geschmeidig-kühle Linnen der Menschenhaut schmeichelnd Ums Weißgenähte hat ihn die ledige Mutter für das Kind gebeten Er hat es verweigert. Einmal brachte der Vater dem Kind Wollstrümpfe aus dem Bregenzerwald. Sie kratzten, als wollten sie hinterhältig an das feine Tuch erinnern, das der Neugeborenen nicht vergönnt gewesen war und fortan ins Reich der Wünsche einging. Ich wußte ja von Hochwiirden Otto Neururer, der Anna Neurures Vormund war. Fast vergessen hatte ich Großmutters Bemerkung, der Vormund sei Katechet gewesen in Innsbruck, Lehrer des Rechten und Guten. Das stand früher nicht in seiner Biografie. Jetzt, da er selig gesprochen ist, wird es erwähnt. Ist er also der Verwandte zweiten, dritten Grades? Er meinte es ernst mit dem kanonischen Recht, einer Frau, die einen Geschiedenen heiraten wollte, versagte er den Beistand. Der Geschiedene war Nazi. Denunziant. Neururer kam nach Dachau, feierte Gottesdienste am Sonntag, taufte Mitgefangene. Wurde mit dem Kopf nach unten nackt am Appellplatz gehängt. Starb am dritten Tag. Es heißt aber auch, er sei im Bunker gestorben. Ich weiß nicht, wo steht in Innsbruck der Schrank mit der guten Wäsche. Ich weiß nicht, wo nehme ich die Tücher her, ihn zu betten in die Sanftmut des Linnens. MAI 2023 65