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Rolle - geschrieben aber wurden die Szenen auf Deutsch. Und da sie von einer promovierten Germanistin geschrieben wurden, die unter anderem zum mehrperspektivischen Erzählen bei E.T.A. Hoffmann publiziert hat, ist es ein ziemlich raffiniertes und reflektiertes Deutsch, mit dem man hier konfrontiert ist. Ganz abgesehen davon, dass Sprache — genauer gesagt: Sprachen - ein zentrales Thema dieser Prosaskizzen ist. Indem ein mehrsprachiges weibliches Ich Schlüsselszenen seiner Jugend verschriftlicht, findet es zu seinem ganz eigenen Ton - und damit zu sich selbst. Immer wieder geht es um existenzielle Angst und um deren Überwindung, gleich zu Beginn etwa im Kurztext Fisch im Fluss, aber auch in der Tungjatjeta-Geschichte, die einige Hauptthemen des Biichleins umkreist: die herkömmlichen und die wünschenswerten Genderrollen, den per se problematischen Begriff „Heimat“, wozu auch das Weggehen gehört — „Ich alleine entscheide über meine Heimat“ —, sowie das Schreiben und die Schrift. Keineswegs ungewöhnliche Themen in vielen Romanen und Erzählungen, die man zur ästhetisch anspruchsvollen „Migrationsliteratur“ rechnen kann. Aber Kalterina Latifis Vertrautsein mit den Feinheiten modernen Erzählens macht ihre Texte dann doch zu etwas Besonderem. Wenn die Großmutter eine Episode aus der Jugend des Mädchens erzählt, wird diese eingeleitet mit dem Satz „Eine andere Begebenheit: die hätte auch ich erzählen können“ — und schon ist eine produktive Verstörung da, ein Bewussthalten der Relativität alles Gesagten. Genau das prägt auch die längste dieser Prosaszenen, Unterwegs zur Insel, in der das beliebte Motiv der Insel als Nicht-Ort, als U-Topos, als Utopie aufgenommen wird: „Eine Insel, die ich nie zuvor gesehen hatte. Wie oft aber hatte ich an sie gedacht“. Auf diese namenlose, offensichtlich vor der englischen Südküste gelegene Insel hat sich das weibliche Ich gerettet, um eine frühere Liebesbeziehung zu einem nicht nur intellektuell dominanten Akademiker aufzuarbeiten, sich dabei vor allem mit dessen „Sprachtyrannei“ auseinanderzusetzen und diese belastende Vergangenheit schließlich zu überwinden. Wie hier, manchmal an der Grenze zur Satire, eine umfassende, im Wesentlichen sprachlich vermittelte weibliche Selbstentfremdung geschildert wird, zu deren literarischer Formung Ingeborg Bachmann und ihr Buch Franza entscheidend beigetragen haben, das darf man getrost meisterlich nennen. „Genau genommen haben wir uns ja insgeheim gehasst“, heißt es einmal. Wir haben uns nichts gegönnt. Die Eifersucht hat uns innerlich zerfressen ... Die Schlüsselstelle war die jeweilige Wunde. Er erkannte (wohl zum Teil auch zurecht) die Wunde eines jeden ... Ich habe Jahre benötigt, um zu verstehen, wie er es machte, oder soll ich sagen: wie es ihm geschah? ... Ersah alles, durchschaute alles, nur sich selber nicht. Wie sprachliche „Selbstzensur“ Menschen vernichten kann und wie man sich durch die Besinnung auf Mehrsprachigkeit, Dialektausdrücke und Sprichwörter vielleicht davor bewahren kann, wird in diesem grandios dichten Text im Detail vorgeführt. Ein Vehikel zur Befreiung und Selbstermächtigung des Ich kann auch der Radsport sein - „Sie fuhr auf dem innersten Kettenblatt“, liest man in Auf der Fahrt, und selbst der gemächlichste E-Biker wird gepackt werden von der Intensität dieser vierten Prosaszene. Um die Schmerzen des Abschieds vom früheren Leben, um Überwindung und Neuankunft kreisen die bisweilen traumverlorenen Sätze der letzten Erzählung mit dem programmatischen Titel Ums Leben laufen, die das ewige Migrationsthema vom Fremden und vom Eigenen prägnant an den unverrückbaren Bräuchen durchspielt, an denen der kosovarische Großvater eisern festhielt. Neunzig Prosaseiten nur, aber neunzig Seiten, die manch dicken Roman locker aufwiegen. Klaus Hübner Kaltérina Latifi: Tungjatjeta. Prosaszenen einer Jugend (= edition pen 215). Wien: Locker Verlag 2022. 92 S. Euro 14,80 Helmut Dahmer denkt und arbeitet in der Tradition des philosophischen und gesellschaftskritischen Materialismus des 19. Jahrhunderts, der sich im 20. Jahrhundert nur mühselig im Widerstand gegen die Totalitarismen weiterentwickeln konnte, und der Psychoanalyse Freuds. Er umkreist beständig die Geschichte des Marxismus und der Psychoanalyse, und bemüht sich um die Publikation wichtiger Werke Trotzkis auf Deutsch. Weder ist Dahmer ein Glaubender einer Herrschaftsideologie noch ein Häretiker, der eine bestimmte Abweichung von einer Orthodoxie zum Zentrum seines Denkens macht. Er versucht, sowohl die Geschichte der sozialistischen Tradition zu verstehen als auch ein Verständnis für die gegenwärtige gesellschaftliche und politische Lage zu gewinnen. Dies zeigt sich für mich besonders gegen Ende seines neuen Buches, wo er aus einer Charakteristik der beiden totalitären Regime des 20. Jahrhunderts zu einer Analyse des russischen Überfalls der Ukraine übergeht. Bei der Definition der nationalsozialistischen und sowjetischen Regime geht Dahmez, als ein die Menschenrechte verteidigender Internationalist, weit über die zeitgebundenen Schriften Trotzkis hinaus. Über die vergleichende Analyse der Herrschafts- und Terrorsysteme des Nationalsozialismus und des Stalinismus, sowie über die Aufdeckung ihres Nationalismus, kann er die „fatale Verwandtschaft“ der „menschenverschlingenden Regime“ aufdecken. (Aus Kapiteltiteln in Dahmer, 204 und 220.) „Der ‚nationale‘ Sozialismus und die klassenlose ‚Volksgemeinschaft‘ waren die verhangnisvollsten Utopien des 20. Jahrhunderts.“ (Eb., 222.) Sowohl Nazis als auch Stalinisten haben die Massenparteien der Arbeiterbewegung gewalttätig zerstört und das Aufkeimen neuer sozialistischer Initiativen entscheidend erschwert. Der stalinistische Terror entwickelte sich besonders in der Ukraine, wo der Holodomor die nazistische Okkupation als Befreiung erscheinen ließ, und viele Ukrainer in den „bloodlands“ (Timothy Snyder) zu Kollaborateuren wurden. Nicht vergessen werden sollte, dass Trotzki nach dem Hitler-Stalin-Pakt fiir die Selbstandigkeit der Ukraine gegeniiber der stalinistischen UdSSR 1939 mit folgenden Worten pladierte: ,Gekreuzigt zwischen vier Staaten, ist die Ukraine heute in die gleiche Situation geraten wie {früher} Polen.“ (Eb., 232.) Massive Traumata können zu Wiederholungszwängen führen, insbesondere wenn das Morden verleugnet wird und verdrängt werden muss. Die Freudsche „Wiederkehr des Vergessenen“ zeigt sich heute im „ klassischen‘ Vertreibungs- und Deportationskrieg {der Russischen Föderation} gegen eine ‚illoyale‘ Nation“, die Brechung des ukrainischen Widerstandsgeistes und ihres Autonomiestrebens ist das Ziel des russischen Krieges. (Eb., 234.) Nun muss ich zum Hauptteil des DahmerBuches kommen: der Frage des Verhältnisses von Marx und Freud, gespiegelt in der Beschäftigung Trotzkis mit der Psychoanalyse, der Verfolgung der Trotzkisten und dem Aufbau des stalinistischen Unterdrückungssystems. Dahmer weist eingangs nach, dass Marx und Freud aus einer ähnlichen Denktradition kommen, dem Materialismus des 19. Jahrhunderts. Dann zeigt er, dass sich Trotzki lange mit der Psychoanalyse beschäftigt hat, die er in den historischen Materialismus inkludiert schen wollte. Diese Eingemeindung ist nicht Dahmers Sache, für ihn hat sich Marx MAI2023 71